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Nicolas Pethes
Péter Farkas: Golem

Golem, ein seit 1996 beständig wachsendes und wucherndes Konvolut, ist eines der ersten literarischen Hypertext-Projekte, die das neue Medium nicht nur benutzen, um einen ursprünglich linear verfaßten und als solchen lesbaren Text darzustellen, sondern um seine Form aus der hypertextellen Struktur selbst beziehen. Golem ist ein 'Rhizom' im Sinne Deleuze/Guattaris, ein Netzwerk aus Textfeldern, in das es zahllose Eingänge gibt und innerhalb dessen sich die Lesewege unendlich verzweigen. Zugleich ist Golem aber kein modischer Abgesang auf traditionelle literarische Formen: Indem das Genre des Geschichtenerzählens in den hypertextuellen Raum integriert wird, können Möglichkeiten und Grenzen, Berührungspunkte und Differenzen zwischen 'alter' Literatur und 'neuem' Medium vermessen werden. In diesem Sinne handelt es sich bei Golem um eine hypertextuelle Geschichte, die zugleich ein Essay über das Erzählen im Hypertext ist.
Aufgrund dieser Doppelstruktur besteht Golem hauptsächlich aus zwei Bereichen: einem "rhizomatische" Bereich, der aphoristische Reflexionen hypertextuell verlinkt, und einem "linearen Bereich", der im Stile traditionellen Erzählens verfolgt, wie dieser Stil ins Verstummen mündet. Beide Bereiche sind aber nicht strikt getrennt, sondern von einer den gesamten Golem rahmenden Maske aus zugänglich, die dem Leser überdies weitere Formen zur Hand gibt, mit deren Hilfe das Werk erschließbar und seine interne Vernetzung nachvollziehbar wird: Glossar, Thesaurus, Konkordanz sowie ein Schaltplan und schließlich ein "Irdisches Horoskop", das vom Entstehungsdatum des Textes aus gestellt wird.
Der rhizomatische Bereich nimmt seinen Ausgang von einem textuellen Vorraum, der die entscheidenden Schlüsselbegriffe vorgibt, an die sich dann über gleichermaßen systematische wie assoziative hypertextuelle Links die zentralen methodischen Reflexionen über das Denken und den Seinszustand sowie das nonlineare Schreiben und das Unaussprechliche anschließen. Während der rhizomatische Hypertext das Problem des Unausprechlichen als theoretisches Problem ausstellt, zeigt der lineare Teil des Golem, daß der Versuch, eine Geschichte zu erzählen, ebenfalls in den nachbegrifflichen Seinszustand übergeht. Diese lineare Geschichte besteht aus drei Teilen: dem Baedecker, einem Text, der als Spielbrett mit 36 Feldern organisiert ist; dem Spaziergang, der dieses raumorientierte Prinzip des Erzählens in die Engführung zwischen einem scheiternden Spaziergang und einer scheiternden Lebensgeschichte übernimmt; und dem Joseph, der vollends zur Biographie eines Verstummenden wie des Verstummens wird. Die beiden Hauptbereiche des Golem erweisen sich daher auf das engste miteinander verbunden: Während der alineare Essay die Möglichkeit des (linearen) Erzählens umreißt, wird die lineare Geschichte als ein dichtgewobenes (alineares) Netz aus Motiven und Verweisen kenntlich. In dieser simultanen Kontrastierung und Verknüpfung von linearem und alinearem Denken ist der wichtigste Impuls von Golem zu sehen.
Die Übersetzung von Farkas’ Roman-Essay Golem stellt daher gleichermaßen ein literarisches und ein theoretisches Desiderat dar. Inmitten der überstürzten Reaktionen auf das neue Medium Internet und schnellebiger Hypertext-Produktionen ist die Arbeit sowohl eine elaborierte Anwendung des neuen Mediums wie die Markierung einer Zäsur: Das Schreiben des Textes ist begleitet von einer steten Reflexion auf die medialen Bedingungen dieses Denkens, Sprechens und Schreibens. Insofern Golem letztlich die parallele Struktur zwischen kognitiven Prozessen und dem Hypertext aufweist, handelt es sich um einen Text, der die Grenzen des Textes überschreitet.
Die Übersetzung ist bemüht, diese Verbindung aus theoretischem und praktischem Zugängen auch im Deutschen herzustellen. Dies bedeutet eine besondere Herausforderung, weil es Farkas im Golem stets auch um die Parallelen zwischen Denkprozessen, hypertextuellen Vernetzungen und Sprachstrukturen geht. Der ungarische Text trägt dieser Netzwerkhaftigkeit, die den Text mit seinem Medium verbindet, durch eine sehr enge begriffliche, formale und gedanklich Vernetzung der Abschnitte untereinander Rechnung. Dabei geht es weniger um unmittelbare Wiederholungen, sondern vielmehr um wechselseitige Anklänge, implizite Kommentierungen und unter Umständen auch Widersprüche zwischen den einzelnen Passagen. Diese Struktur verlangt eine sehr sorgfältige Übersetzung, die vermittels eines zu erstellenden Glossars und graphischer Transformationen des textuellen Netzes in Form eines Schaltplans bemüht sein muß, möglichst viele der impliziten und expliziten Vernetzungen aus dem ungarischen Original inhaltlich, vor allem aber auch sprachlich, zu reproduzieren.
(2003)

"Waschzettel" über den linearen Bereich des Golems:

1. Baedekker (Geschichte)
36 Geschichten, 36 Textpassagen, 36 Text-, Gedächtnis- und Wahrnehmungräume auf einem virtuellen Spielbrett, auf dem man in beliebige Richtung ziehen kann, obgleich es nur ein einziges Spielfeld gibt: das biografische Ich. Der Baedecker ist also das Aufblitzen von 36 konkreten, raumgebundenen und -bezogenen Erfahrungen.

2. Spaziergang (M. Klein)
Die Geschichte erzählt über das Vorhaben des Haupthelden (dessen Figur drei "konkrete" Ahnen hat: Monsieur Teste, Hölderlin und Robert Walser) einen Roman zu schreiben und einen ausgedehnten Spaziergang zu machen. Das - im herkömmlichen Sinne - Scheitern beider Vorhaben wird/ist in der Wirklichkeit der Schlüssel und die Voraussetzung für das Aufbrechen des Ich, des verengten, trüben und verworrenen Bewusstseins. Die Geschichte von M. Klein markiert den Weg zur Entscheidung von Joseph im dritten Teil des "linearen Bereich des Golems".

3. Grillengeräusch (Joseph)
"Er ist - wie immer – morgens um halb sieben aufgewacht. Es sah also nach einem gewöhnlichen Tag aus. Dass es doch anders kam, lag an einer Entscheidung, die Joseph fällte. Er entschied nämlich, sobald er die Auge aufgemacht hatte, kein Wort mehr zu sagen. Joseph verbrachte die vor ihm liegenden Jahren, ohne seine Entscheidung je zu ändern. Und Gott gab Joseph ein recht langes Leben. Annähernd dreiundhalb Jahrzente lagen noch vor ihm."
Das subtile und dichtgewobene Verweissystem des Textes basiert auf Baedecker und Spaziergang. Der Leser erlebt einen außerordentlich dichten Text- und Handlungsaufbau, dessen einziger Protagonist in drei Wesen erscheint: der Hauptheld Joseph; die über den Haupheld schreibende, mit "J." gekennzeichnete Person und der Autor selbst. Diese profane "Dreifaltigkeit" geht am Ende der Erzählung in der Einheit der Persönlichkeit Joseph (oder J. / oder der Autor) auf. Der Schlußteil des linearen Bereichs des Golem, der übrigens auch den wichtigsten Endpunkt des Projekts als skriptuelles Unternehmen markiert, ist der Darstellungsversuch des letzten Augenblicks vor dem Erreichen eines nachbegrifflichen Zustand.

* Nicolas Pethes: Ironie des Verstummens - Péter Farkas’ Hypertext-Romanessay Gólem als Text von seinem Ende
in: Lettre International, Budapest, Nr. 40., 2000
* Der strukturelle Aufbau des Golem als Hypertext par excellence (2003) - pdf
* Golem (slowakisch) in: p. 272-275 / V sieti strednej európy: nielen o elektronickej literatúre: ed. BOGUMILA SUWARA a ZUZANA HUSÁROVÁ, SAP a Ústav svetovej literatúry SAV Bratislava 2012
* Dániel Fenyő: Die digitale Technologie in der ungarischen Literatur in/auf: goethe.de, 2020

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Mihály Szabó: Gólem

The entry was drafted at the University of Koeln Englisches Seminar during the Winter 2013-14 term, as part of the class, "Locating the Text" offered by Professor Joseph Tabbi.

Gólem by Péter Farkas is an essayistic hypertext novel (its subtitle defines the work as “hyperiodical approaches”), which was written continuously by the author between 1997 and 2004. Among Hungarian critics like Endre Szkárosi or Zoltán Szuts, Gólem is considered as the first significant Hungarian hyperfiction. In contrast with pioneering hypertexts like Michael Joyce’s afternoon, a story or Stuart Moulthrop’s Victory Garden, Péter Farkas’ hyperfiction doesn’t have a recognizable plot or narrative. Parts of it can be read as a diary, other parts as philosophical fragments, others as commentary or reflection and other texts from the world literature. However, the different parts of the text scarcely relate to each other, and this diversity makes the work hard to read as a whole – it is not easy to find a common theme.
Although there isn’t any sound or motion present, and in very rare occasions can the reader see images, Gólem is not a traditional text of the Gutenberg Galaxy: after entering the text at a given point, the reader can continue its exploration by following any of the hyperlinks and a certain level of interaction is needed for the non-linear reading, where the readers can find their own paths.
The structure of the work is extremely complicated. It consists of 700 passages and 5974 links. Numerous links are given even on the title page. Some of the links are external, leading to articles about the work and interviews with the author. One can start with the Introduction, with the Appendix or with the “Wiring diagram”, a pdf file, an image filling the entire screen, showing visually the connections between the passages of the work.
Due to the work’s complexity, the author provides help to the reader, giving suggestions in the Introduction where to start and how to read his hypertext. On one hand, this gesture can really be helpful for readers who don’t know how to start reading the text, but on the other hand, it shows that the reader might feel lost without the instructions of the author, which can drive away potential readers. Although quite big freedom is given to the reader, regarding the reading order of the passages, the author advises us to try to use the reading method explained by him, in order to be able to follow the logical order of the passages. According to his advice, “mental tracks” should be followed, using the hyperlinks in and after each passage. For the easier understanding can the reader use as help the “Wiring diagram”, the “Thesaurus” (numerous tables with keywords and links leading to different parts of the work), or the “Pókfonal” (“Spider web”, the chronology of the connection of the passages to the system). The screen is usually divided into two parts. On the bigger, right side we can read the passages, jumping from link to link. (Here we often find short texts about philosophical questions, which can be interpreted as fragments or with the help of the other texts to which they are connected with hyperlinks.) We can also study a glossary, which explains the technical terms used in the work. or jump to the “Bedekker” (“Baedeker”), which is probably the most narrative part of the work (here we can read loosely connected episodes from the author’s life, like a fragmented autobiography, always jumping from one place to another). The reader can also decide what to see on the left side: the sources of the quotes, or the “Spider web”, or the “Flat net”, the layout of the work, which helps the reader to understand the structure. Another choice is to start the reading from the “Phaidrosz-váltó” (“Phaedrus switch”), which is a hypertextual commentary on Plato’s dialogue. Here the screen is divided into three parts, and the quotes can be read parallel with the commentary.
According to the author, “Gólem is about the fact that the author doesn’t know anything. But he is eager to find out: can he know anything at all in his state of being, and if yes, how.” And as Nicolas Pethes puts it: “What comes to life from this [structure] is almost an independent entity: a golem. Péter Farkas’ Gólem is about the similar incapability of future texts to come to an end, and eventually we are going to look for their ‘truth’ in this, golem-like structure.”

* Bogumiła Suwara: Questions for authors of electronic literature

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