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Nicolas Pethes

Ironie des Verstummens
Péter Farkas’ Hypertext-Romanessay Gólem
als Text von seinem Ende

(in: Lettre International, Budapest, Nr. 40., 2000/Frühling)

Die Literatur ist am Ende, kein Platz für die Dichter in dieser Zeit. Das ist mitnichten eine larmoyante, paranoide Kulturkritik unserer Tage, das hat Platon gesagt, vor mehr als 2000 Jahren, und er hatte gewichtige Gründe für seine gewichtige These: Athen war Schauplatz eine Medienrevolution, der Erfindung der Schrift, die den gesamten kulturellen Haushalt - die Geschichtsschreibung, die Gesetzgebung, die Philosophie - vom Kopf auf die Füße stellte. Die Literatur war am Ende: In Platons Staat war kein Platz mehr für die fahrenden Sänger die „aus dem Gedächtnis und in Hexametern" (Christoph Ransmayer) die alten Mythen, aber auch die moderneren philosophischen Lehrgedichte eines Parmenides etwa, mündlich vortragen konnten. Vielleicht nicht immer originalgetreu, vielleicht mit den Zusätzen an den Lieblingsstellen und Unterschlagungen an anderen - aber wer hätte das schon nachprüfen können im Zeitalter vor der Schrift? Die Dichtung existierte allein im Moment ihrer Aufführung und in der unsichtbaren Kette, die die einzelnen Aufführungen untereinander als mächtige orale Tradition des Mittelmeerraums verband. Mit der Durchsetzung des allerorten und immer wieder lesbaren Universalspeichers Schrift ging sie verloren.

 

"...wenige also bleiben übrig, denen die Erinnerung stark genug beiwohnt. Diese nun, wenn sie ein Ebenbild des Dortigen sehen, werden entzückt und sind nicht mehr ihrer selbst mächtig, was ihnen aber eigentlich begegnet, wissen sie nicht, weil sie es nicht genug durchschauen. Denn [...] was den Seelen köstlich ist, hiesige Abbilder, haben keinen Glanz, sondern mit trüben Werkzeugen können unter Mühen von ihnen nur wenige jenen Bildern sich nahend des Abgebildeten Geschlecht erkennen." (Platon: Phaidros 250a)

Ausdrückbarkeit und Unausdrückbarkeit. Wir können immer nur etwas Annäherndes, Ähnliches sagen. Jedes unserer Worte steht für ein anderes. Die Literatur ist ein Prozeß ständiger Vergleiche und absurder Ersetzungen. Weil wir das Einzusetzende nicht kennen. ("...was den Seelen köstlich ist, hiesige Abbilder, haben keinen Glanz, sondern mit trüben Werkzeugen können unter Mühen von ihnen nur wenige jenen Bildern sich nahend des Abgebildeten Geschlecht erkennen." - Nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern wie in einem Spiegel. Physik des trüben Werkzeuges.

Vollständig verloren? Nicht ganz! Eine kleine Minderheit eifriger Schreiber wagte die Transkription des mündlich Überlieferten und siehe da: Im Gegensatz zu Platons Staat hat Homers Werk sich gehalten - und mehr als das: Es ist zum Mythos einer unerreichten Dicht- und Gedächtniskunst geworden. Es scheint, daß ein Medienwechsel die Literatur weniger eliminiert, als daß er ihr einen neuen, bislang unerreichbaren und ungeahnt wertvolleren, Status zuspricht: den des vergangenen, verlorenen, aber doch so bewahrenswerten Gutes nämlich. Wer gegenwärtig also als Platon unserer Tage ein neues digitales Zeitalter ausruft und damit den Untergang der Gutenberg-Galaxis gekommen sieht, leistet eben jenen Produkten des Johannes Gutenberg einen unschätzbaren Dienst, indem er genau das zu höchst hütenswerten Augäpfeln der Kultur erhebt, was vor zwei Jahrtausenden noch zu sekundärem Kulturabfall erklärt worden war. Kein größerer Gefallen also, den man der schreibenden Zunft erweisen könnte, als ihr baldiges Ende im Grab des World Wide Web zu prophezeien.

Das Internet ist, wenn wir es so sehen, eine weitere Herausforderung, an der sich die Literatur zu bewähren hat: Was wird geschehen, wenn links an die Stelle eines linearen Kontinuums der Schrift treten werden, virtuelle Oberflächen an die Stelle haptisch greifbarer Seiten, ein vielstimmiges Doku-versum an die Stelle der Stimme des großen Dichters? Wird das die Produktion der Texte beeinflussen, ihre Gestalt oder nur unser Lesen? Und umgekehrt: Wie lange werden sich die Metaphern aus der Buchwelt noch halten, die das Internet heute prägen: Seiten, Lesezeichen, Blättern usw.? Ebensoviel Kontinuität wie Bruch also, sollte man meinen, und genau an diese Beobachtung knüpft sich die entscheidende Frage, die sich der Literatur beim Eintritt ins digitale Zeitalter stellt: Es geht nicht um Sein oder Nichtsein - weder der Literatur noch der Kultur -, es geht darum, wie sich die Literatur zu ihren modifizierten medialen Umwelt verhalten wird. Wird sie in Form einer schlichten Transkription im neuen Medium erscheinen, also in gleicher Gestalt, wie wir sie aus dem Buch kennen? Dann wird sie behäbig sein, schwer lesbar und doch nur ein sprechendes Zeugnis für die technische Überlegenheit der Digitalität. Oder werden Autoren beginnen, Texte direkt für das Netz zu schreiben? Solche Projekte schießen wie Pilze aus dem virtuellen Boden; solange ihre Verfasser jedoch nach wie vor darauf schielen, ihre Produkte eines Tages als gedrucktes Buch in Händen zu halten, perpetuieren ihre Netzaktivitäten doch nur die ästhetische Minderwertigkeit des Digitalen. Der Schritt zu einer tatsächlichen Internetliteratur läge also in einem Schreiben, das von vorneherein auf die Struktur des Hypertextes ausgerichtet wäre und dessen Produkt letztlich nur innerhalb dieser Struktur bestehen könnte.

Péter Farkas schreibt mit dem Roman-Essay Gólem seit 1997 - und noch ohne vorhersehbares Ende - einen solchen Text. Keinen Text im traditionellen Verständnis, aber doch ‘Text’ im allerwörtlichsten Sinne: ein Gewebe in Form eines Netzwerks von Textfeldern, die über als links markierte Begriffe untereinander verknüpft sind: „Ein räumliches Netzwerk, wie wenn ich aus unzähligen Würfeln ein sich ins Unendliche erstreckendes Gebäude errichtete, die Seiten der Elemente allerdings fehlen, nur das Gerüst steht und die Seitenstränge tragen die Konstruktion. Das Fehlen der Seitenflächen garantiert die Möglichkeit des Übergangs in alle Richtungen." Der Weg der Lektüre, der diesen links folgt, ist nicht vorgegeben. Er verzweigt sich unvorhersehbar und konstruiert für die einzelnen Abschnitte immer neue Zusammenhänge und Kontexte: „Endlich muß ich nicht mehr anfangen, aufhören: Ich trete dort in den Text hinein und dort aus ihm heraus, wo ich will. Ich kann immer nur denselben fortsetzen, kann immer nur innerhalb desselben sein. Wie wenn ich in Wasser träte oder aus diesem heraus. Der Stoff schließt sich gnädig und spurlos vor mir, hinter mir. Rückkehr." Ob man mit dem hypertextuellen Kommentar von Platons eingangs erwähnter Schriftkritik aus dem Phaidros beginnt oder mit dem Vorraum, der sich aus leitmotivhaften Thesen und Zitaten zusammensetzt oder der Lektüre anhand von Schlüsselwörtern den je eigenen Weg bahnt: Hypertextuelle Literatur richtet sich nicht an passive Leser, sondern setzt auf Interaktion. Ihre Ordnung entzieht sich der Verfügung eines einzelnen Autors: „Mein schlichtes Aussterben aus dem Text."

Was dadurch zum Leben ersteht, ist ein denkbar autonomes Gebilde: ein Golem. In der jüdischen Mythologie ist das ein Wesen aus Lehm, das durch eine Inschrift auf der Stirn, dem hebräischen Worts für ‘Wahrheit’ (emeth) zum Leben erweckt werden kann. Es wächst so lange, bis der erste Buchstabe dieses Wortes getilgt wird, so daß nur noch meth, ‘er ist tot’, zu lesen steht. Im Zeitalter nach den Mythologien ist es die Kunst, die zum Schauplatz einer solchen schöpferischen Konkurrenz des Menschen mit Gott wird. Gustav Meyrink hat 1915 den expressionistischen Roman Golem veröffentlich, in dem die Kreatur als untoter Wiedergänger durch die Prager Altstadt spukt. Bei aller düsteren Intensität bleibt Meyrinks Buch aber ein Buch und wird als solches nicht selbst zum Golem: zum wuchernden, autonomen Textgebilde. Die Dämmerung des Hypertexts läßt dies aber nur als mediale Beschränkung erscheinen. Péter Farkas’ Gólem gibt Grund zu der Annahme, daß Texte in Zukunft selbst unabschließbar sein werden und wir ihre Wahrheit letztlich in dieser Struktur - dem ‘golemhaften’ Anwachsen - zu suchen haben.

 

Schreiben im Netzwerk, Lesen im Netzwerk. Nur so funktioniert der Text, das Verstehen (Schreiben und Lesen sind Prozesse, die sich auf das selbe richten, nämlich den Text. Das Subjekt wird unmittelbar nicht vom Text, sondern von der zurückströmenden Energie betroffen oder beeinflußt). Worin besteht der Unterschied zwischen dem netzwerkhaften und dem linearen Schreiben/Lesen? Ist es überhaupt möglich, außerhalb eines Netzwerkes (Kontexte, Zusammenhänge, Struktur etc.) zu schreiben und zu lesen - sich zu äußern, zu denken (Leere)? Die Bedeutung existiert nicht für sich, sondern nur im Kontext (György Kalmár). Ebenso die Sprache und das Denken. Der Unterschied zwischen dem Linearen und dem Netzwerkhaften besteht nur im geistigen Schwerpunkt des Schreibenden, Lesenden, Sprechenden oder Denkenden (sich Äußernden): ob er versucht, den Gegenstand seiner geistigen Tätigkeit zu isolieren und ‘an sich’ zu untersuchen oder zu verstehen (die Absonderung leistet immer nur Partielles, weil man keinen geistigen Gegenstand restlos aus seinem Kontext lösen kann); oder ob er die selbe Untersuchung ‘innerhalb’ des jeweiligen Kontextes oder Zusammenhangs vollzieht (zum Begriff innerhalb: Kontext und Zusammenhang sind Gebilde, die sich ununterbrochen und dynamisch wandeln und umgestalten. Insofern sich auch der Geist selbst innerhalb eines Kontextes bewegt, ist die Unterscheidung von ‘innerhalb’/‘außerhalb’ zum einen sinnlos, zum anderen existieren - wenn wir an engere Einheiten wie etwa an den Kontext, den das assoziative und semantische Netzwerk eines Begriffs ausbildet, denken - gar keine eindeutigen und bleibenden Grenzen, weil das ganze Feld in ständiger Bewegung ist: Es dehnt sich aus, es zieht sich zusammen, wie ein wärmeempfindlicher, flüssiger und amorpher Körper unter ununterbrochen wechselnden Temperaturbedingungen.) Die Linearität mischt sich im übrigen genau hier in die natürliche ‘Unordnung’ ein: Sie regelt, begrenzt und schränkt ein. Sie regelt die Temperatur, begrenzt die Bewegungsfreiheit und schränkt die Durchlässigkeit ein. Die Metapher vom roten Faden spricht eine deutliche Sprache: es geht um einen einzigen Faden und nicht um Vielfältigkeit oder gar ein Knäuel; um eine einzige Richtung und nicht um Verzweigungen; um eine markierte Ettape und nicht um Unendlichkeit; um Gerichtetheit (Monotonie) und Führerprinzip. Daher ist das netzwerkhafte Denken archaischer als das lineare Denken. Die ursprüngliche Form der Netzwerkhaftigkeit vollzieht sich aber nicht über die Vernunft, sondern über die Selbstinspiration, die Intuition, die Offenbarung des Geistes, also über den feinen Leib der Seele. Öffnung des Leibes und der Seele (Kafka). Der Verstand ist trocken, die Seele fließt (Katharsis, kathartisches Denken). Eine zweite Energie. Es war gerade das Schreiben, das die Durchlässigkeit zwischen dem Geist und seiner Offenbarung radikal reduziert hat: indem es das Universum und dessen geistigen Angelegenheiten mit seinen untauglichen Mitteln gewaltsam übersetzt und anschließend die Dinge selbst an diese zwangsläufig ungenügende und fehlerhafte Übersetzung angeglichen hat.

Aber noch die greifbarsten, scheinbar unvermeidlichen, Folgen eines Medienwandels können niemals gleichbedeutend sein mit dem spurlosen Verschwinden der Tradition. Farkas’ Kompendium ist weit davon entfernt, einer pathetischen Mystifikation des neuen Mediums die Stimme zu leihen. Es reflektiert im Hypertext nicht nur dessen eigene Bedingungen, sondern stets auch das Vermächtnis der Literatur. Damit macht es ein Angebot, wie wir der platonischen Falle - nämlich neue Medien immer entweder euphorisch oder kulturkritisch aufnehmen zu müssen - entgehen können: Das „Ende des linearen Textes", von Mallarmé angekündigt und von Benjamin bis Derrida beschrieben, wird bei Farkas weniger emphatisch begrüßt, als vielmehr zu einer technischen Frage erklärt. Der Hypertext ist ein Werkzeug: Er unterläuft die Trennung zwischen einem ‘Text’ und seinem ‘Gegenstand’, indem er sichtbar macht, wie die Aussage eines Textes in seiner Funktionsweise zu suchen ist: Die assoziative Verkettung der Textbausteine kopiert nicht, sondern ist die Arbeitsweise unseres Hirns. Der Hypertext schreibt nicht über das Denken, sondern ist das Denken im ganzen Spektrum seiner Selbstbezüglichkeit und Automatik.

Der Hypertext ist noch in einem zweiten Sinne ‘Werkzeug’. Er kann zu Mittel werden, die Spuren der literarischen Kommunikation vor der linearen Buchkultur aufzufinden: Techniken des Andeutens, der Vielstimmigkeit und des Verstummens. Es geht, ganz nüchtern, um die Wiedererlangung latenter Möglichkeiten der Literatur jenseits des einsinnigen Erzählens: die Mehrstimmigkeit der Literatur und die Gleichberechtigung wie Gleichzeitigkeit verschiedener Versionen eines Gedankens. Gólem behauptet dabei nicht in postmoderner Fröhlichkeit das Ende aller Referenz, er zeigt nur auf, wo neben der vermeintlichen Eindeutigkeit der Sprache noch Felder des Verweisens liegen, die frei sind vom fixierenden, vereinnahmenden Charakter der Sprache: Wo der Text abbricht, wo seine Sätze in einer Geste enden, wo sich die Sentenzen nicht zu einem geschlossenen Sinngefüge finden, da bleibt der link ein stummer Hinweis auf die Möglichkeit einer Bedeutung. Sie verliert ihren Wert, wenn man sie vorschnell auf einen Sinn festlegt; man bewahrt sie, so lange man sie als Möglichkeit beläßt, der Bedeutung also einen Platz einräumt, „den sie brauchen kann, ohne ihn einzunehmen." (Walter Benjamin)

 

Der Akkord ist darstellbar, seine Skizze gibt allerdings nicht mehr als Idee des Akkords wieder. Akkord bedeutet: gleichzeitig ertönende, harmonisch geordnete Klangeinheit. Anstelle einer Tonreihe ein Zusammenklingen. Es erklingt durch ein Erklingenlassen, besser gesagt durch das äußere und innere Hören. Der Hypertext stellt anstelle einer Tonreihe Akkorde (hintereinander angeordnet) dar, ohne die Möglichkeit, sie erklingen zu lassen. Denn einen literarischen Akkord erklingen zu lassen ist unmöglich. Mit dem Hypertext allerdings ist diese Idee mit einem Mal darstellbar geworden, und wir verfügen darüberhinaus auch über das angemessene Instrument (PC). Vor uns liegt die Partitur, unsere Finger ruhen auf den Tasten, der Blick ist auf den Takt des Dirigentenstabs gerichtet, nur der Akkord selbst bleibt stumm. Was bleibt ist Partitur-Literatur: Umtriebiges Blättern, Starren, rituelles Murmeln - anstelle stummen Schwebens. Aufgewühlt sein - anstelle von Abgeklärtheit; launenhafte Fluten - anstelle einer alles ausgleichenden, inneren Strömung (flow); ein Haschen in alle Richtungen - anstatt sich an einem Ort einzurichten.

Das gegenwärtige Problem der Literatur, so will es letztlich scheinen, ist nicht der Medienwechsel an sich. Die Sackgasse, in die sich die Literatur am Beginn unseres Jahrhunderts wieder einmal manövriert hat, ist das Gefühl, alles sei bereits gesagt, der Hofmannsthalsche Nachgeschmack, daß die Worte „wie modrige Pilze im Munde zerfallen". Immer wieder in seiner Geschichte ist das Schreiben an diese Grenze gestoßen und immer wieder hat es die selben Strategien reproduziert, um sie zu überwinden: Der Unmöglichkeit des Sagens steht das Pathos eines Ausdruckswillens entgegen, das Satz auf Satz häuft und eine schier unüberschaubare Textmasse generiert. Mit dieser Geste sucht auch der Gólem das Jenseits des Sprechens in einem ungeheuren Durchgang durch die Sprache, einem letzten Aufruf aller ihrer Facetten; er sucht die neue Form der Literatur, indem er sich an ihrer Tradition abarbeitet: an Fragen nach dem Erzählen, dem angemessenen Ausdruck und der Funktion von Literatur und Kultur. Und hier wirkt der Hypertext als Befreiung: von der Pflicht, eine geschlossene Geschichte zu erzählen, von der Notwendigkeit, Ausdrückbarkeit zu heucheln, wo nur das Schweigen zählt und von der Last der Bedeutsamkeit der ‘großen Literatur’.

 

„Josef Klein stellte sich selbst drei Fragen: Was ist das Leben? Was ist der Tod? Und wo wohnt Gott? Zunächst erteilte er sich auf alle drei Fragen die gleiche Antwort: Ich weiß es nicht - ich weiß es nicht - ich weiß es nicht. Unmittelbar danach beschloß er jedoch, von nun an bei seinen Meditationen alle literarisierenden Kunstbegriffe zu vermeiden, und er gelobte zudem, für den Rest seines Lebens jedes Wort nur genau einmal niederzuschreiben. Dieser Entschluß bedeutete seltsamerweise keine Einschränkung, sondern wirkte befreiend und es eröffneten sich bis dahin ungeahnte geistige Weiten. Zum ersten mal im Leben vermochte er so zu spüren, daß die Idee der Freiheit nicht nur ideologische Fassade oder schöngeistiges Gebilde ist, sondern eine konkret erfahrbare Realität." ... Und schließlich: „Josef Klein ging nach Haus und schrieb und sprach sein ganzes übriges Leben lang keinen einziges Wort mehr. Wie seine Witwe später mitgeteilt hatte, gab er bis zu seinem Tod genau 36 Mal tiefe, monotone, aber zu jedem Anlaß verschiedene Töne von sich. Bei dieser Gelegenheit vibrierte sein ganzer Körper auf seltsame Weise gleichmäßig und kaum wahrnehmbar. Wer Josef Kleins Kleidung, Haut oder gar seine Haare berührte, verspürte ein sanftes, elektrifiziertes Zittern. Viele hielten die Angelegenheit für eine bloße Erfindung der Witwe, aber alle die selbst Zeugen dieser Erscheinung gewesen waren, stellten übereinstimmend fest: Es hat sich genau so zugetragen, wie die Frau berichtete. "

Vielmehr, so der Umkehrschluß, liegt die Wahrheit des Textes im einzelnen hypertextuellen Baustein, dessen links die unabschließbare Angewiesenheit auf Ergänzung markieren. Zeigen statt Sagen, Sein statt Bedeuten - und doch niemals dem Text entkommen: Wir müssen uns den Gólem als eine ironische Figur vorstellen. Nach allen Wonnen der Künstlichkeit, nach allem Autonomiestreben und technischer Fertigkeit treibt ihn nur ein Wunsch um: Mensch zu werden, und bei Farkas: Geschichte zu werden, Erzählung, Roman. Auch Farkas’ hypertextuelle Reise mündet wie zwangsläufig in einer Einbahnstraße, die unter der Überschrift Történet sechsundreißig Episoden unter Ortsnamen aneinanderreiht. Es sind dies aber keine Ortsbeschreibungen, wie wir sie kennen. Es sind Geschichten, die an diesen Orten und durch die Aura dieser Orte überhaupt erst so geschehen wie sie geschehen. Nicht das technische Prinzip des Hypertext macht die Literatur zur Raumkunst, sondern ein Erzählen, das die Räumlichkeit des Geschehens ernstnimmt und die literarischen Texte deshalb selbst in eine räumliche Ordnung bringt. Das könnte die Literatur unseres noch jungen digitalen Jahrhunderts sein. Sie wird bestehen bleiben, vielleicht bis zur Unkenntlichkeit verändert, aber immer noch lesbar: eine Literatur der Übersetzung, eine Literatur der Medien und, immer noch, eine Literatur des rückhaltlosen Erzählens.

 

[Zirndorf] Ich wurde zum Dolmetschen gerufen. Allerdings waren auf dem Amt die Sprachen vertauscht worden, so daß man mich an die falsche Stelle geschickt hatte. Bis sie den Fehler bemerkten, war ich schon an Ort und Stelle. Sie hatten also keine andere Wahl, als mich zu bezahlen und unverrichteter Dinge in die Zentrale zurückzuschicken. Ich ging zunächst ins Hotel um mein Gepäck zu holen. Gerade, als ich die Drehtür betreten wollte, sprach mich jemand mit unsicherer Stimme und fremdartigem Akzent an. Ich trat zurück, drehte mich aber nicht sofort um. Ich weiß auch nicht genau, warum ich zögerte, obwohl ich die Stimme sofort erkannt hatte. Es war L. Sie war mit der allerersten Flüchtlingswelle eingetroffen. Eine glatte Angelegenheit war das, damals waren auch die Behörden noch großzügiger, außerdem hatte sie Verwandtschaft hier, in München oder Nürnberg, glaube ich. Und schließlich brauchten sie ja ortskundige, zweisprachige Leute mit guter Ausbildung. Ich drehte mich um, und obwohl ich wußte, daß nur sie es sein konnte, erkannte ich ihr Gesicht dennoch nicht sofort wieder. Wir hatten früher einmal zusammen gearbeitet, in irgendeinem halbseidenen Strafprozeß. Lauter kleingeistige, glücklose Figuren. Ich lächelte zögernd, aber L.s Gesicht blieb regungslos. Es war eine nahezu naturwidrige Bewegungslosigkeit, eher eine Lähmung, wie nach einem leichten Schlaganfall. Ich trat auf sie zu, wir begrüßten uns, aber ohne uns die Hände zu reichen. Als ob auch ihren Armen etwas zugestoßen wäre. Sie fragte mich, wann ich zurückfahren würde. Mit dem ersten Zug, sagte ich. Sie bat mich, auf sie zu warten, sie fahre auch nach Köln. Sie sprach ohne jeden Nachdruck, beinahe geschäftlich. Ihre Stimme aber war von einer unmißverständlichen Beklemmung, Angst sogar, unterlegt. Einen Augenblick lang fand ich die Situation außergewöhnlich und ein wenig belastend, eine fremde Stadt, in einem Phalansterhotel, eingehüllt von sterilem, blauen Neonlicht, zusammen mit einem eigentlich wildfremden Bürgerkriegsflüchtling. Ich nickte, ließ mein Gepäck holen und setzte mich in die Halle, gegenüber von dem Schaufenster zur Straße hin. Durch die schweren, geschmacklos behäkelten Vorhänge drang nur wenig Tageslicht, durch die Ritzen hindurch konnte man die Straße und das Auf und Ab zumindest erahnen und das linderte die hermetische Abgeschlossenheit des Gebäudes ein wenig. L. erschien nach unglaublich kurzer Zeit wieder, als ob sie ihr Gepäck irgendwo in der Nähe, wie eine Terroristin hinter einer Tür oder einem Tisch, versteckt gehabt und nur auf mein Auftauchen gewartet hätte. Ich stand wortlos auf, und wir verließen das Hotel, behängt mit den allerseltsamsten Gepäckstücken, die uns vom Hals und von den Schultern baumelten. Der Bahnhof war nur einige Minuten zu Fuß entfernt, ich fluchte trotzdem stumm in mich hinein, daß mich das Schicksal mit L. hatte zusammentreffen lassen. Ihre unmöglichen Taschen schlugen mir bei jedem Schritt in die Nieren und knallten in den allerunerwartetsten Augenblicken in meine Kniekehlen, so daß ich beim Laufen auf groteske Weise einknickte. Nach dem kurzen Gespräch vor der Drehtür fingen wir erst im Zug wieder an, miteinanderzu reden. Glücklicherweiese fanden wir ein leeres Abteil. Rasch verteilten wir unser Gepäck auf allen Sitzen, damit anderen die Lust verging, uns während der vier bis fünf Stunden Fahrt, die vor uns lagen, Gesellschaft zu leisten. Später stellte sich heraus, daß unsere Vorsichtsmaßnahmen überflüssig gewesen waren, wir saßen in einem beinahe vollständig leeren Waggon. Wir verließen eben die Stadt und hatten uns nach den üblichen Geschäftigkeiten der Abfahrt wieder gesammelt, gemütlich einander gegenübergesetzt und uns gegenseitig angelächelt, als hätte man den anderen soeben erst wiederentdeckt. Blitzartig fielen mir, wie absurd das unter den gegeben Umständen auch sein mochte, die typischen Ausgangspunkte von Maupassants Novellen ein: "Wir waren zu siebt in dem englischen Reisewagen, vier Damen und drei Herren...". Oder: "Hinter Cannes war das Abteil überfüllt. Die Menschen unterhielten sich miteinander, jeder kannten jeden." Oder: "Auf den gepolsterten Sitzen des Eisenbahnwaggons lag eine Broschüre. Ich nahm sie und schlug sie auf ..." Oder: "Wir sprachen von unglücklichen Zufällen, und jeder von uns konnte eine besondere Geschichte beitragen ...". L. hatte sicherlich keine Ahnung, warum ich lächeln mußte, ebensowenig wie ich ahnte, daß wir - obgleich nur zu zweit im Abteil und in einer wenig latinisierten Gegend von Europa - bald die schlichten Sätze einer maupassantschen Rahmenerzählung wiederholen würden. Einige Zeit lang unterhielten wir uns über unbedeutende Themen, über das Wetter natürlich, über die Stadt, die wir zurückließen und die uns beide fremd und feindselig schien, und über die lange Zugfahrt, die vor uns lag. Dann, ohne jeden Übergang, inmitten eines vollkommen harmlosen Satzes, zerfielen ihre Züge im wahrsten Sinne des Wortes, ihr Blick verdunkelte sich, und sie sagte nur: Es ist unvosrtellbar. Ich begriff weder den plötzlichen, unbegründet scheinenden, radikalen Stimmungswandel noch den Bezug ihres Ausspruchs, den sie noch einmal wiederholte. Später erfuhr ich, daß vor kurzem ein neuer Transport aus dem Süden eingetroffen war. Lauter junge Mädchen. Ihre Geschichten allerdings waren sogar für die Apparatschiks zuviel, sie wußten nichts mit dem Gehörten anzufangen und zogen daher auch die eine oder andere zuständig scheinende Organisation hinzu. Bald schon waren ein Dutzend Sozialarbeiter und sonstwelcher Aktivisten dabei, die Augenzeugenberichte zu protokollieren. Aus diesem Grund war auch L. in der Stadt gewesen, genauer gesagt im Lager, denn sie hatte dessen Umkreis seit ihrer Ankunft noch nicht verlassen. Zehn Tage lang machten sie Interviews, von morgens bis abends und manchmal bis in die Nacht, und L. dolmetschte mit zwei weiteren Übersetzern gemeinsam. Sie waren ursprünglich zu fünft gewesen, die Männer wurden aber in ein anderes Lager umgelegt. L. sprach ununterbrochen. Am Anfang machte sie noch mehr oder weniger lange Pausen, ab Frankfurt sprudelten die Worte aber mit nahezu hysterischer Anspannung aus ihr hinaus, ich versuchte vergebens, sie zu bremsen, weil ich ahnte, das die Sache kein gutes Ende nehmen würde. Dann brach die Wortkaskade mit einem mal ab. Sie holte aus ihrer Tasche ein billiges, schwarzes Aufnahmegerät und bedeutete mir, sie würde nun ein Interview abspielen. Wir stören ja niemand, bemerkte sie mit plötzlichem Taktgefühl und betätigte die Starttaste. Ich werde übersetzen, fügte sie hinzu und setzte sich in den Sitz neben mir. Das Band rauschte eine Weile lang, dann begann eine vollkommen ausdruckslose Stimme fließend, aber ohne jede Betonung und Gefühlsregung zu sprechen. Ich glaube, ich hörte diese Sprache zum ersten Mal. Das ist uninteressant, sagte L. und drehte den Rekorder leiser. Ein paar Sekunden später aber begann sie zu sprechen und bald verlor sich die Stimme der anderen Frau vollständig in ihrer Stimme. Eine Weile lang versuchte ich noch, die beiden Spuren außeinanderzuhalten, aber obgleich sie verschiedene Sprachen benutzten war es unmöglich, die Sätze zu trennen, die sich nicht nur übereinanderlegten, sondern miteinander verschmolzen. Ich kann nicht mehr sagen, ob der Zug während dieses Monologs einmal angehalten hat, auch nicht ob es noch hell war oder schon dämmerte. Ich saß da, neben L., mit weit von mir gestreckten Beinen und starrte auf die ausgetrocknete Füllung, die aus dem gebrochenen Kunstleder auf der Unterseite des gegenüberliegenden Sitzes herausquoll. An das Interview selbst habe ich keine Erinnerung. Es muß meiner Schätzung zufolge mindestens eine Stunde gedauert haben. Nur die allerletzten Sätze sind mir haften geblieben, L.s Körperhaltung, wie sie den schwarzen Kasten vollständig regungslos in ihrem Schoß umklammert hielt, der Duktus, in dem sie übersetzte, und die geradezu manische Wiederholung der monotonen und vollständig unnötigen Verknüpfungen "sagt sie", "sagte" oder Vergleichbares. Ich habe keine Ahnung, wie oft sie die Kassette schon gehört haben mag, jedenfalls konnte sie den Text so aufsagen, als könne sie ihn auswendig oder läse ihn von einem Schriftband ab, das vor ihre Augen projiziert würde. Es war von irgendeiner Gruppe Frauen die Rede, man hatte sie am Nachmittag des Vortags gefangengenommen, an die Vorgeschichte kann ich mich nicht mehr erinnern, nur daran, daß sie sagte, daß am nächsten Morgen etwas Außergewöhnliches geschehen sei, weil plötzlich und unerwartet Zlatko aufgetaucht sei, in einer grauen Leinenhose, einem Leinenmantel und Springerstiefeln, das sei aber keine Uniform gewesen, sondern habe nur ziemlich soldatenmäßig ausgesehen, sie habe sich sogar gefreut, ja, über den Zlatko, sagt sie, denn sie hätten ja noch vor kurzem zusammen getanzt auf einem Schulball, hatten sich totgelacht über die Band und über die Mütterchen, die in ihren karierten Strickjacken von den Nachbarhöfen gekommen waren, jetzt aber würdigte er sie keines Blickes, vielleicht erkannte er sie nicht, sei ja kein Wunder, sagt sie, nur daran habe sie damals nicht gedacht, denn schließlich war sie von oben bis unten mit blauen und grünen Flecken übersät, und unten voller Blut, das hatte er aber ihres Erachtens nicht sehen können, sagt sie, und ging geradewegs auf die Lena zu, blieb vor ihr stehen, an der Längsseite des Tisches, sagt sie, Lena lag noch genau so da, wie man sie liegengelassen hatte, ihre Beine hingen an beiden Seiten herab, ihre Zehenspitzen berührten fast den Fußboden, ihr Kopf war nach links gewendet und sie starrte mit offenen, regungslosen Augen vor sich hin, vielleicht zum Fenster hinaus, sagt sie, wahrscheinlich hat sie auf den Hof in der Dämmerung geschaut, denn es kann nicht sein, das sie bewußtlos war, sagt sie, denn als der Zlatko sich vor sie hinstellte und langsam seine Schrotflinte von den Schultern nahm, die er sich wahrscheinlich von seinem Vater, oder noch wahrscheinlicher von seinem Großvater, besorgt hatte, sagt sie, und den Lauf mit einer plötzlichen Bewegung in Lena hineistieß, sagt sie, stieß Lena einen Schrei aus und fuhr wie ein Puppe hoch, mit einem von der Hüfte aufwärts vollständig steifen Oberleib, sagt sie, Zlatko aber drückte in diesem Moment ab, sagt sie, so daß aus Lenas offenem Mund ihre Eingeweide schlangenförmig herausspritzten, und an die Decke klatschten, sagt sie, und dann fingen wir furchtbar an zu schreien, woraufhin ungefähr ein halbes Dutzend Jungens hineinstürzten und mit ihren Gewehrkolben auf uns einschlugen, bis wir endlich wieder Ruhe gaben.- L. hielt das Band an. Ich weiß nicht, ob der Monolog noch weiterging, weil L. das Gerät nicht wieder anschaltete. Sie wandte sich zu mir und fragte, als ob sie eine technische oder methodische Frage hätte klären wollen: Glaubst du, man kann diese Geschichte auch anders erzählen?

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