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Farkas Péter: Kreatúra
Farkas Péter: Kreatúra, Magvetö, 2009, 120 oldal

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Péter Farkas’ Prosa-Triptychon Kreatur versammelt drei Texte, die die immer enger werdenden Grenzen, die wir in der heutigen Welt dem menschlichen Leben auferlegen, umreißen. Noch bevor die Flüchtlingsströme aus Afrika und dem Nahen Osten tagtäglich vor Augen geführt haben, wie sehr die politische Herausforderung der Gegenwart in demjenigen liegt, was Giorgio Agamben als "nacktes Leben" oder Zygmunt Baumann als "verworfenes Leben" bezeichnet haben, hat Farkas Szenen skizziert, die die Reduktion des Menschen auf seine schiere und nahezu spurlos tötbare biologische Existenz zeigen. Was wir aus Flüchtlingslagern und Katastrophengebieten kennen, wird so als verdrängte Kehrseite unserer biopolitisch grundierten Kulturgeschichte kenntlich.

Der Text nimmt seinen Ausgang von einem erzählerischen Annäherungsversuch an eine in der Wüste verhungernde, namenlose 'Kreatur', um dann aber einen Bogen zu literarischen Vorgeschichten dieses radikal nackten und verworfenen Lebens zu spannen. Wenn Farkas dabei anhand der biographischen Wendepunkte zum Wahnsinn bei Hölderlin bzw. zum Selbstmord bei Celan nach literarischen Bildern für den Übergang in die bloße Kreatürlichkeit sucht, verbindet sich scheinbar weit Auseinanderliegendes zu einem unheimlichen Panorama. Den drei Textteilen geht es aber natürlich nicht um ein gesellschaftspolitisches oder literaturhistorisches Statement, sondern lediglich um die narrativ evozierbaren Berührungspunkte des nackten Lebens mit einer literarischen Erfahrung – denjenigen Stellen also, an denen sich die Grenze zum Kreatürlichen mit der Grenze der Sprache berührt.

Zu jedem der drei Teile gehört ein Bild. Die erste Aufnahme stammt von James Nachtwey, der sie 1993 im Sudan gemacht hat, und trägt die Kennzeichen des aus den Konzentrationslagern bekannten "Muselmann“. Der einzige sichtbare Weg der Kreatur ist ihr Hunger, er führt aber kaum weiter als bis an den Rand der Fotografie und den Versuch, den eigenen Tod zurückzunehmen.

Die zweite Aufnahmereihe führt von der Avenue Zola 6 unter die Mirabeau Brücke in Paris – ein Weg von genau 1462 Schritten, die Paul Celan von seinem Wohnort bis zum Ort seiner Selbsttötung gehen mußte, am 20. April 1970, dem Geburtstag von Adolf Hitler. Der zweite Texteil verfolgt diesen Weg der alles Menschliche aufzehrenden Einsamkeit.

Das letzte Bild stammt von Francis Bacon. Auf dem Bild: der im Fleisch eingeschlossene Schrei. Die Angst, die weit tiefer emporströmt, als aus dem flachen, eindimensionalen Ich. Diese Angst ist der Weg Friedrich Hölderlins, als er am 11. April 1806 abgeholt und interniert wird.

Kreatur besteht also aus drei Szenen des Übergangs ins nackte Leben. Es ist ein zutiefst literarisches Buch, weil die Wahrnehmung dieses Übergang stets aus einer Innenperspektive und damit an den Grenzen der Sprache vermessen wird – ein Experiment, das Péter Farkas schon einmal in seiner Geschichte einer Liebe in den Zeiten der Demenz, die unter dem Titel Acht Minuten (2007/2011) ins Deutsche übertragen wurde, unternommen hat. Es ist ein europäisches Buch, in dem sich Referenzen auf die literarische Kultur und politische Theorie Deutschlands, Frankreichs, Ungarns, Polens und Italiens begegnen. Und es ist ein Buch, das nicht nur von aktueller, sondern geradezu von existentieller Bedeutung ist, wenn es an die Grenzen des Lebens und Sprechens zugleich führt.

Kreatur III: Angst (Aus dem Ungarischen von Nicolas Pethes)
in: schliff, N°5 Lebensformen, edition text + kritik, 2016 München
Angst
ist das letzte von drei Kapiteln, die 2009 unter dem Titel Kreatúra im Budapester Magvetö-Verlag erschienen sind.

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