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Farkas Péter: Háló / Netz, Jelenkor, 1996, 210 oldal
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"Worum geht es im Buch? Eigentlich um die banalsten Dinge der Welt. Kindheit, Liebe, Tod, Mord, Selbstmord, Wahn - frei mit W. H. Auden zu sprechen: um das Einüben der Fähigkeit, das Brot mit den Toten zu teilen...", sagt Peter Farkas in einem Interview. Háló zeigt, wie eine sequenzartige Serie aus präzisen Textbildern den tagtäglichen Zustand eines Bewußtseins, das die sogenannte Wirklichkeit in einem Ensemble aus Wahrnehmungen, Erinnerungen, Träumen und Visionen reflektiert, durchlebt. Was sich anfänglich wie eine willkürliche Abfolge hermetischer Fragmente liest, vernetzt sich zunehmend zu einem dichten Geflecht, das die Assoziationen des Bewußtseins weniger erzählt als im Text und im Prozeß der Lektüre abbildet. Der homogene Fluß der Sprache und der Rhythmus der Prosa stehen dabei der scheinbaren Gebrochenheit des Textes nicht entgegen, sondern verstärken den Eindruck einer wachsenden inhaltlichen Geschlossenheit. "Alles ist Form, Gestus", heißt es dazu programmatisch im vierten, poetologischen Teil des Romans: Noch die formale Einheit des Netzwerks 'Text' ist Teil einer inszenatorischen Geste, die ein textuelles Bewußtsein zur Aufführung bringt. Der homogene Duktus durch die Fragmente hindurch ist nicht das Dominieren einer herrschenden Tonart, sondern das organische Zusammenklingen einer ungeordneten Vielstimmigkeit. In diesem Sinne lautet der Untertitel des Buches Synopse, und die formale Gliederung des Textes zeigt eine entsprechend segmenthafte Aufbaustruktur. Das Buch ist jedoch "kein Synopse-Roman, sondern eine Roman-Synopse und der Leser begegnet keiner Fragmentsammlung, sondern der belletristischen Versuchung der Idee vom unendlichen Buches". (András Visky)
Ausschnitt aus dem Buch
Der Text handelt von einer Fotografie, aufgenommen in Kaunas, 1941. Das Bild zeigt einen Totschläger, der die vorgeführten Juden mit einer Eisenstange erschlägt.
3/76 (H/76) Vor mir dein ikonenhaftes
Ganzkörperportrait. Vorsichtig nähere ich mich. Vielleicht sollte ich mit dem
Abzählen der Rasterpunkte beginnen, damit jedes einzelne Korn etwas von dieser
furchtbaren Erregung aufsaugt, damit nicht ich am Ende der Abrechnung
in der Mitte des Bildes lande. Dich versuche ich vorläufig aus dem Raum
zu schwärzen. Ich betrachte die im Hintergrund versammelte Gruppe. Junge, gut
gebaute Männer, soweit ich das überhaupt von hier aus zu beurteilen in
der Lage bin. Ja sogar mein Vater könnte unter ihnen herumstehen. Vielleicht
erörtern sie das Ergebnis eines Fußballmatches, es könnten aber genauso gut
auch Tagelöhner in abgetragenen Hosen sein, in Erwartung auf eine Gelegenheitsarbeit.
Jener dort, rechter Hand, der mit der Schirmkappe, hat eher etwas Proletenhaftes.
Der in der Mitte, der seine linke Hand zu seinem Kinn führt, hat das Gesicht
eines Lehrers, wobei er der Art nach, wie er seine Zigarette in der rechten
Hand hält, gar als Halbstarker aus der Vorstadt durchgehen könnte. Links stehen
zwei große Jungen mit dem Aussehen von Gymnasiasten. Ihnen gegenüber, im Profil,
ein unsympathische Agitatorengesicht. Ein scharfer Scheitel schneidet seinen
Schädel gleich einer Wunde entzwei. Zwischen dem Agitator und den Gymnasialknaben
ein breiter Rücken in weißem Hemd. Sein Besitzer hebt sich um mindestens einen
Kopf von der Masse ab, er ragt auch aus dem Bild hinaus. Dies ist die einzige
drohende Figur. Nicht ihrer Größe wegen, sondern wegen der Haltung, der schlecht
geschnittenen, schlabbrigen Hose. Die beiden tschakoartigen Soldatenhüte im
Hintergrund nehmen sich aus wie harmlose Kostüme.
Ich weiß nicht, ob ich, wenn ich nur die im Vordergrund liegenden Männer sähe,
auf den Gedanken käme, dass es sich um Leichen handelt. Dieser Teil des Bildes
wird von Weiß dominiert. Die hellen Flecken der Hemden und die auf dem Foto
erblassten Haare. Der Mittlere, als würde er auf dem Boden lediglich ein Nickerchen
machen. Er liegt auf dem Bauch, der Kopf ruht auf seinem Arm. Der Boden, ja,
es ist der Boden, der die erste Gewissheit bringt. Der schlechte Erdboden,
auf den sich ein Mensch nicht freiwillig hinlegt. Von hier zieht sich der Dreck
hinauf in die groben Falten der Hemden. Es sind Leichen, daran besteht kein
Zweifel. Die erste, auf dem Rücken liegende, wird bereits eins mit dem Boden.
In Wirklichkeit setzt sich die Szene aus vier Ebenen zusammen. Der sich absetzende
Hintergrund (in der Höhe eines Schuhabsatzes hebt auch ein liegender, stangenartiger
Gegenstand die Schnittlinie stärker hervor), der an ein frisches Massengrab
gemahnende, vorerst aber auf der Erde liegende Leichenberg, die Gestalt des
Henkers und mit ihm in einer Linie der als vollkommen eigenständiges Bild erscheinende,
beinahe aus der Erde wachsende Eisenstab.
Als ich dich zum ersten Mal erblickt habe, war ich mir sicher, dass du ein Mädchen
bist, eine kräftige, nordische Schönheit. Es ist nicht lange her, dass du dein
Dorf verlassen hast, ja ich wäre sogar versucht zu glauben, du stündest auf
einem Bauernhof, wäre der Boden um dich herum leer. Du bist gerade mitten in
der Arbeit, als du dich auf die frechen Zurufe eines Jünglings, der womöglich
gerade mit seinem großschachteligen, zauberhaft blitzenden Gefährt um dich buhlt,
umdrehst. Ich würde die Szenen der nordischen Mythologie mit deinem Antlitz
bevölkern. Dein Gesicht ist in Wirklichkeit geschlechtslos, genauer gesagt zweigeschlechtlich,
und allein das ist mythologisch, ja sogar göttlich, und auch die Gleichförmigkeit
deiner Gestalt stört nicht. Aus deinen Umrissen, deinem Antlitz strahlt die
totale Geschlechtlichkeit dermaßen heraus, dass man schon gar nicht mehr nach
dem Körper fragt. Was für eine Kette wölbt sich unter deinem Pullover? Und was
für einen Anhänger trägst du daran? Du stehst dort, dem Held eines Volksmärchens
gleich, in knöchelhohen, weichen Stiefeln, die Hosen hineingestopft, mit einem
breiten Gürtel, und selbst die Art, wie du deinen Gürtel zurechtrückst, verströmt
die Keckheit des allerkleinsten Jungen. Ich versuche dich kennen zu lernen,
dich zu erkennen. Ich untersuche deine Augen, deinen leicht geöffneten Mund,
deine dicken Lippen. Einzig eine Sache an dir ist unnatürlich. Das auf deinem
Schädel wie eine weiße Fellmütze dicht sitzende Haar. Es ist gar kein Fell,
eher ein aufgetürmter, weißer Stoff.
Deine eingerahmte Fotografie stelle ich dorthin auf die Kommode, neben die anderen
Reliquien, in die Nähe des Bildes von dem mediterranen, hageren, großgewachsenen
Tänzer (*), und ergänze die sich allmählich vervollständigende Anthropologie
um ein weiteres Mitglied.
* Hinweis auf die Schlußszene von Salò o le 120 giornate di Sodoma (Pasolini)