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Péter Farkas
EXIT
Aus dem Ungarischen von Nico Pethes
(Blätter aus dem Graphic Novel Version / txt, hu)

I. Der Raum des Seins

(prolog) Eines Tages stieg der Mensch wieder aus dem Gebirge hinab. Er war, nachdem er die Hälfte seines Lebens durchlaufen hatte, in die Berge gegangen, um sich mit Weisheit vollzusaugen wie eine Biene, die übermäßig viel Honig sammelt. Es war ihm aber nur der Kopf schwer, die Luft knapp und das Blut dünn geworden. Es ekelte ihn vor dem Himmel, der Höhe, der sengenden Sonne. Er wußte, was ihn im Tal bei den Kannbibalen erwarten würde, aber er spürte auch, daß er dort bald an die Grenzen des Raumes seines Lebens stoßen würde und wollte diese Gegend endlich kennenlernen. Denn da er von Beginn an nie etwas begriffen hatte, hoffte er nun wenigstens während seiner letzten Schritte rückblickend etwas von seinem Schicksal zu verstehen. Er stieg den Berg allein herab und dachte unterwegs über den Weg nach, den er in der oberen Welt zurückgelegt hatte. Er war hinaufgegangen, um andere und sich selbst zu heilen. Geist, Sehkraft und Lungen. Er war hinaufgegangen, um seine Vettern und sein Geschwisterkind zu treffen, weil er hoffte, gemeinsam mit ihnen Namen für das Namenlose, das Unaussprechliche zu finden. Er war hinaufgegangen, um wieder herabsteigen zu können, denn er liebte die Menschen. „Und ich”, sagte der Heilige – denn der Mensch war inzwischen in einen Wald gekommen, in dem mit einmal ein Greis vor ihm stand – „warum ging ich doch in den Wald, in die Einöde? War es nicht, weil ich die Menschen allzu sehr liebte? Jetzt liebe ich Gott: Die Menschen liebe ich nicht. Der Mensch ist mir eine zu unvollkommene Sache. Liebe zu Menschen würde mich umbringen.” Der Mensch nickte nur. Denn auch er war am Ende jeden Tages, den er erblickt hatte, umgebracht worden. Was sollte er also von Liebe sprechen? Zögernd streckte er die Hand aus, aber der Heilige lachte nur: „Bringst du ein Geschenk den Menschen? Aber wer wird dir glauben? Unsre Schritte klingen ihnen zu einsam durch die Gassen. Und wie wenn sie nachts in ihren Betten einen Mann gehen hören, lange bevor die Sonne aufsteht, so fragen sie sich wohl: wohin will der Dieb? Gehe nicht zu den Menschen und bleibe im Walde! Gehe lieber noch zu den Thieren! Warum willst du nicht sein, wie ich, - ein Bär unter Bären, ein Vogel unter Vögeln?” Der Mensch starrte den Heiligen verständnislos an: „Du fragst, was du als Bär unter Bären, als Vogel unter Vögeln zu tun haben sollst? Folge mir! Ich mache Lieder und singe sie, und wenn ich Lieder mache, lache, weine und brumme ich: also lobe ich Gott." Der Mensch wiegte düster den Kopf: „Hast du jetzt genug Lieder gebrummt? Gott genügend verlacht und beweint? Und ist dir das viele Weinen und Lachen, Brummen und Singen jetzt genug und ist dir auch Gott selbst langweilig geworden? Und willst du jetzt endlich auch das Ende sehen, weil du schon alles gesehen hast, was bis hierhin führt?” Der Mensch erhob den Blick demütig zu dem Heiligen und sie lachten, gleichwie zwei Knaben lachen. Der eine mit vollem Mund, der andere mit leerem – leer, denn es war kein Laut mehr in seiner Kehle. Er war stumm geboren worden, stumm, dort oben auf dem Berg. - - - - -

(vor der Brücke) Es gab nur noch eine Brücke, über die man in die Stadt gelangen konnte. Sie war für Fußgänger geschlossen und Züge gab es in den äußeren Sektoren schon lange nicht mehr. Es verkehrten nur noch längliche, röhrenförmige Busse, die in unregelmäßigen Abständen unterwegs waren. Die Brücke wirkte wie die Fortsetzung des Festlandes, eine Mole, die sich ohne sichtbare Erhebung scheinbar endlos über das Wasser erstreckte. Vielleicht hatte man die Stadt früher einmal auch vom Festland aus sehen können, jetzt aber sah man nichts mehr. Die überfüllten, klapprigen Busse fuhren einfach auf die Fahrbahn hinaus, die über das Wasser führte, mitunter waren sie stundenlang unterwegs oder blieben, scheinbar ziellos, stehen. Vor der Abfahrt pferchte der Ordnungsdienst die Menschenmenge in den Fahrgastraum. Hierzu verwendeten sie eigens zu diesem Zweck konstruierte Geräte, um die Türen schließen zu können. Sobald die Container losgefahren waren, blieben die Türen bis zur Ankunft verschlossen. Die Fenster waren außen von einer fettigen Dreckschicht überzogen, innen von einem dichten, schmierigen Belag aus menschlichen Ausdünstungen. Wenn man Glück hatte, funktionierte eins der schmalen Schiebefenster oder irgendeine Dachluke. Dann hatte man eine realistische Chance tatsächlich anzukommen. Der Mensch bemerkte schon von weitem, daß er sich dem Brückenkopf näherte. Der Uferbereich war von wartendenden Reisenden überflutet. Einzelne Familien hatten sich zwischen die Ruinen zurückgezogen, um die Warteizeit in ihrem Schutz verbringen zu können. Wo etwas Platz frei blieb, hatten Händler aus Abfall und Shutt Hütten, Zelte oder anderen Behausungen errichtet, in denen sie ihre elenden und doch überlebensnotwendigen Waren anboten. Die Sicherheitslage war hier zweifellos besser als in den äußeren Bezirken. Es kam aber dennoch zur Vergewaltigung von Frauen und Kindern, betucht scheinende Reisende wurden ausgeraubt, und immer wieder gingen einzelne gewalttätig aufeinander los. Dennoch war das Gelingen der Überfahrt keineswegs aussichtslos. Das war in erster Linie der Stadtverwaltung zu verdanken, die zwar auf dem Festland nirgends mehr funktionierte, für diese Zone aber von der Stadt neu abgeordnet worden war, um den Zustrom zu regeln. Der Mensch erreichte den Kontrollposten am frühen Abend. Die Übergänge wurden hier automatisch überwacht, nur selten tauchte ein Aufseher auf. Weiter innen aber patrouillierten sie überall, große, grünlich leuchtende Scheinwerfer suchten den Grenzstreifen ab, und die Menge wurde durch Lautsprecher herumkommandiert, die an langen Masten befestigt waren. Eng aneinandergepreßt schleppten sich die Menschen weiter, mit der gleichmütigen, ungebrochenen Zielstrebigkeit einer wandernden Tierherde. Wenn jemand hinfiel oder aus der Menge gerissen wurde, setze das gleichmäßige Vorwärtströmen nicht einmal für einen Augenblick aus. Man stolperte weiter, zwischen den Knochen, Leibern und Gepäckstücken. Wer stürzte, versuchte sich entweder zu retten und weiterzuschleppen oder ergab sich seinem Schicksal. Die Personenkontrollen begannen erst in Sektor B. Man dirigierte den Menschen in einen engen Gang, in dem man nur einzeln an den Kontrollposten vorbeigehen konnte, an denen Wachmänner mit verspiegelten Sonnebrillen standen, in denen sich das Licht grell spiegelte. Der erste Posten nahm nur die biometrischen Daten auf, am zweiten befand sich ein Ganzkörperscanner, erst an der dritten Station wurde er angesprochen. "Ihre Zutrittsnummer bitte”, forderte ihn der Uniformierte ausdruckslos auf. Der Mensch hielt die Innenseite seines Handgelenks unter das Einlesegerät. „Abgelaufen”, sagte der Beamte. „Sie haben die Stadt schon vor zehn Jahren verlassen.” Der Mensch nickte. Der Beamte rückte seine Sonnenbrille zurecht. „Gehen sie zu Schalter 3642. Sie müssen die Isotopen-Untersuchung wiederholen.” Der Mensch nickte wieder und bog in den Gang ein, der zu Schalter 3642 führte. Er wußte: Obwohl die Untersuchungen Tag und Nacht durchgeführt wurden, würde er erst morgen weitergehen können.

(untersuchung) Weil der Isotopentest die Ernährungsgewohnheiten der registrierten Exemplare analysierte und man auf der Grundlage dieser Daten unzweifelhaft feststellen konnte, woher er stammte bzw. wo er sich im vergangenen Jahrzehnt aufgehalten hatte, drängten sich in diesem Sektor in erster Linie die Flüchtlinge. Aufgrund der Großfamilien und ihrer ungeheuren Gepäckmassen war das Gedränge hier noch größer als anderswo. Die Untersuchung selbst dauerte nicht lange, weil man nur einen Scanner passieren und dabei 5-8 Sekunden auf dem Passierstreifen stehen bleiben mußte, bis das Aufnahmegerät den Körper einmal komplett umrumdet hatte. Da es sich um ein Selektionsverfahren handelte, zog sich die Prozedur aber dennoch quälend lange hin. Denn die nur wenigsten wurden durchgelassen, alle anderen aussortiert. In dem Moment, in dem ein rotes Stoplicht aufleuchtete, fanden sich diese Reisenden von einer mit Tasern ausgerüsteten Schwadron umzingelt. Leisteten sie keinen Widerstand, wurden sie schnell abgeführt. Taten sie es aber, wurden Bewegungs- und Sprachzentrum mit wenigen fachmännischen Handgriffen gelähmt und die betreffende Person abtransportiert. Das führte regelmäßig zu einem beträchtlichen Rückstau. Die aussortierten Reisenden wurden in einem mehrstöckigen Eisencontainer hinter der Station übereinander gestapelt. Die geschlossenen Container standen auf Laufrollen, die unter den Behältern angebrachten waren. Von hier wurden sie in regelmäßigen Abständen zu den in der naheglegenen Lagune wartenden Lastkähnen transportiert. Der Mann kam im Morgengrauen an die Reihe. Der Einlaß wurde von einem automatischen Signalgerät gesteuert. Offensichtlich konnten die Analyseprogramme aber bestimmte Grenzfälle nicht eindeutig auswerten. Dann leuchtete am Tor jedesmal eine silbrig-weiße Lampe grell auf und ein Wachmann erschien. Er öffnete ein Fenster und drehte den Monitor zu sich. „Türkenbund, Rapunzel, dianthus superbus, Gletscherwasser – sind sie vom Himmel herabgestiegen?”, fragte er überraschend gutgelaunt, starrte den Mann aber im nächsten Augenblick schon wieder gleichgültig und leblos an. "Sie können weitergehen. Die gültige Eintrittsnummer erhalten sie am nächsten Tor", sagte er. Der Mensch nickte und bog in den ihm angewiesenen Gang ein. - - - - -

(überfahrt) Der Mensch saß ungefähr in der Mitte des Fahrgastbereichs, auf einem Gangplatz. Der Bus fuhr nach kurzer Wartezeit los. Wenn nichts Außergewöhnliches geschah, würde die Überfahrt ungefähr ein Stunde dauern. Die Stadt erreichte man über eine pfeilgerade Straße ohne Kreuzungen. Nur zwischen den Docks mußten sie einige Wracks und unbefahrbaren Streckenabschnitte umfahren, bald aber tauchten die dunklen Lagunen auf und sie fuhren auf die Brücke auf. Ihm gegenüber saßen zwei Frauen mittleren Alters, beide hatten Kinder auf dem Schoß. Sie waren vielleicht vier oder fünf Jahre alt und lehnten erschöpft und apathisch an den schwitzenden Frauen. Die Augen geöffnet, die Blicke leer. Neben ihnen, eingezwängt zwischen den Seitenlehnen der Sitze, standen Männer und Frauen. Es war nicht festzustellen, wer zusammengehörte, weil alle mit dem gleichen, regungslosen, stummen Ausdruck nach vorne starrten. Der Mensch blickte aus dem Fenster und sah, wie das bleifarbene, bewegungslose Wasser mit dem Himmel verschmolz. Die Fahrbahn führte leicht aufwärts, aber von den übrigen Abschnitten der Brücke war nichts zu sehen, nicht einmal die Geländer, so daß es schien, als glitte man über das endlose Wasser. Hitze und Dunst schienen mit jedem Meter, den sie zurücklegten, zuzunehmen. Die Luft wurde immer dünner. Die Fenster waren wohl kaputt, jedenfalls hatte keines eine Vorrichtung zum Öffnen. Und auch über die Dachluke konnte man nicht lüften. Die Menschen leckten sich den schmutzigen Schweiß von den Wangen rann und hingen mit glasigen Augen an den zerschlissenen Haltegriffen. Dabei war es kaum notwendig, sich festzuhalten, weil sich in dem Gedränge ohnehin niemand von dem fußbreitgroßen Fleck, auf dem er eingezwängt war, wegbewegen konnte. Sie waren vermutlich schon weit über die Mitte der Brücke hinaus, als der Bus anhielt. Nicht plötzlich und ruckartig, sondern nahezu unmerklich. Er hörte einfach auf zu fahren. Das kam vermutlich häufiger vor, vielleicht aufgrund des plötzlich erstarkenden sonstigen Verkehrs, jedenfalls zeigten die ausdruckslosen Gesichter und Blicke der Wartenden keine Regung. Den Fahrer konnte man in seiner geschlossenen Kabine nicht sehen. Nur aus einem bestimmtem Winkel heraus ließ sich in dem breiten Rückspiegel neben dem Fahrstand ab und zu sein Gesicht und die schäbige Tellermütze erahnen. Der Mensch sah in die Gesichter der beiden Frauen gegenüber, um ihnen einen Hinweis entnehmen zu können, aber auch sie blieben regungslos, auch als der Motor verstummte. Nur die Kinder rührten sich zu Beginn und wandten die Köpfe, sanken dann aber auch wieder in ihre Letargie zurück. Dann schien es weiter vorne irgendeine Unruhe zu geben, vielleicht erkundigte man sich beim Fahrer, dachte der Mensch, es ließ sich aber keine artikulierte menschliche Stimme unterscheiden. Als sie schon fast so viel Zeit herumstanden, wie die bisherige Fahrt gedauert hatte, entfuhr der neben ihm stehenden Frau ein kurzer, scharfer Ton, wie ein Kläffen. Der Mensch wollte nicht aufblicken, sondern wandte den Blick nur ein wenig zur Seite. Als erstes sah er die Hand der Frau. Sie preßte die Handfläche auf den Schenkel und vergrub ihre Finger in den dunklen Hosenstoff. Aus der Mulde zwischen Zeige- und Mittelfinger sikckerte schwarzer Schweiß. Der Mann wandte sich zurück zum Fenster. Die Scheibe war vollständig beschlagen, aber im Chromnickelüberzug des wulstigen Fensterrahmens konnte er einen Teil des Gesichts der Frau sehen. In dem klaren, glatten Spiegel sah er ganz genau die kleinen, unregelmäßigen Zuckungen ihrer Gesichtsmuskeln, die Feuchtigkeit, die sich am Nasenansatz sammelte, die Verfärbungen der Hautoberfläche und dann mit einmal die Weitung ihrer Pupille, die beinahe aus dem Augapfel hinauszutreten schien. Er wäre aufgesprungen, um die Gewalt der Explosion zu mindern, aber seine Beine waren zwischen Beinen und Gepäckstücken der Mitreisenden eingeklemmt und er konnte nur weiter in Richtung des Fensters starren, den Blick nun aber abgewandt von dem spiegelnden Rahmen. Die Frau über ihm röchelte, kreischte und wand sich, warf den Kopf hin und her, schlug um sich und zappelte hysterisch, als wolle sie sich mit bloßen Händen unter der Erde freigraben, ohne daß sich der Raum um sie weiten konnte. Die Umstehenden versuchten, den umherschlagenden Gliedmaßen auszuweichen, ansonsten aber ließen sie den Anfall stumm über sich ergehen. Nach kurzer Zeit strebte eine wellenförmige Bewegung von vorne zur Mitte des Fahrgastraums hin und unmitttelbar vor der Frau zwängte sich der Fahrer zwischen den umstehenden Körpern hindurch. Er griff an den Gürtel und zog ein handtellergroßes, dosenförmiges Gerät hervor. Die Frau schwieg einen Moment und hätte dann wohl wieder zu kreischen begonnen, aber da preßte das Gerät schon an ihre rechte Schläfe und sie verstummte endgültig. Der Mensch hatte in der Zwischezeit seine Beine unter dem Sitz befreit und richtete sich auf. Die Frau wurde auf ihren Platz geschoben, und der Bus setzte sich wieder in Bewegung. - - - - -

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