(3) Das Weiter-Fragen und Staunen des Augustinus

Um dieses staunende Fragen nach dem Sein des Erinnerns, welches das Erinnern, wenn es sich seiner innewird, selbst aufwirft, überhaupt als Fragen deutlicher zu vernehmen, kann eine nähere Betrachtung der Darlegungen zum herkünftigen Erinnern (bei Augustinus: memoria) im Zehnten Buch von Augustinus' CONFESSIONES hilfreich sein.

Bei seinen Wanderungen durch das Inwendige des Gebäudes des Erinnerns stellt Augustinus voller Erstaunen fest: "(...) auch in Finsternis und Stille verweilend, erwecke ich, wenn ich will, in meinem Erinnern Farben (...), bei ruhender Zunge und schweigender Kehle singe ich, so viel ich will" (vgl.8,13). In der Tat kann man im "stummen" und "stillen" Erinnern singen, wie man ohne weiteres selbst leicht überprüfen kann. Welch eine geheimnisvolle, im allgemeinen vergessene und verborgene innere Welt, die tönt und spricht, und die man doch nicht mit den Ohren hört; die zu sehen, zu schmecken, zu riechen und zu fühlen ist, und die man doch nicht mit dem Auge sehen, mit dem Mund schmecken, mit der Nase riechen und mit den Händen erfassen kann. "Man kann hundertmal das Wort 'Honig' sagen, es wird nicht süß auf der Zunge", heißt ein Sprichwort, das sagt, daß die Worte, die Sprache, diese inneren Gestalten nicht sind. Wohl aber kann man - wenngleich nicht ohne weiteres willkürlich - im Erinnern den Geschmack von Honig vergegenwärtigen. Das Erinnern scheint insofern jener "sechste Sinn", der eigentliche Allgemeinsinn zu sein.

"Dort begegne ich auch mir selbst und erlebe es noch einmal, was und wann und wo mein Tun gewesen und was ich bei diesem Tun empfunden (...) Dort ist alles, wessen ich mich entsinne, sei es von mir erlebt oder daß ich es von anderen erfahren habe. Aus derselben Masse hervor verknüpfe ich mir selber auch immer neue Bilder erlebter (...) Dinge mit vergangenen zu einem Gefüge und erwäge aufgrund dessen auch schon künftiges Tun, wie es aussehen mag, was sich hoffen läßt, und wiederum ist dies alles wie gegenwärtig vor meinem Geiste." (8,14) Das Erinnern umfaßt also auch immer schon die selbst-reflexiven, die je schon inwendigen Wahrnehmungen. Erinnern ermöglicht die Verknüpfung und so überhaupt erst das Herstellen sinnhafter Zusammenhänge zwischen den verschiedensten Erinnerungsgestalten selbst. Erinnern ernährt gleichzeitig, wie Augustinus hervorhebt, das Nach-Vorne-Schauen, die Hoffnungsfähigkeit, welche in der Tat nicht einfach die schiere Negation alles Je-Dagewesenen und selbst nicht jenseits des Seins des Erinnerns ist, sondern sich vielmehr in diesem bewegt, sich aus diesem heraus am Leben erhält. Das Erinnern stiftet insofern auch erst so etwas wie eine personale Kontinuität und damit eine je unverwechselbare Persönlichkeit.

"Da sind auch all die gelernten, noch unversunkenen Dinge des Wissens und der Bildung, gleichsam tiefer weg verstaut an noch inwärtigerem Ort - und doch nicht Ort (...)" (9,16) "Ebenso enthält das Erinnern von Zahlen und Maßen unzählige Verhältnisse und Gesetze [die 'mathematischen Ideen'], deren keines je durch einen körperlichen Sinn ihm eingeprägt worden, weil sie doch nicht farbig sind, nicht tönen und nicht riechen, sich nicht schmecken und nicht tasten lassen. Ich habe wohl, wenn die Rede davon war, den Schall der Worte gehört, durch die sie bezeichnet werden; aber ein anderes sind diese Worte, ein anderes jene Gegenstände. Denn die Worte klingen anders im Griechischen, anders im Latein, die Gegenstände aber sind weder griechisch noch lateinisch, noch überhaupt von sprachlicher Art (...)"(12,19)

Nachdem Augustinus mit den noch unmittelbar an Sensationen geknüpften (oder sensuellen) Erinnerungsgestalten die Erörterung begonnen und im weiteren die selbst-reflexiven Erinnerungen an je schon geist-immanente Wahrnehmungen betrachtet hat, spricht er nunmehr den je schon vorgängigen Bereich jener Erinnerungsgestalten an, die - wie etwa die Allgemeinbegriffe, Kategorien oder "mathematischen Ideen" - nicht durch einen körperlichen Sinn ins Reich des Erinnerns gefunden haben können, sondern offenkundig immer schon, wenngleich oft "ungeweckt", inwendig vorhanden sind. Diese sind, wie Augustinus im Vorgriff auf den späteren scholastischen Nominalismusstreit hervorhebt, keineswegs bloße Nominalia, das heißt rein sprachliche Charaktere, sondern durchaus Realia, also seinshafte Wesenheiten. Ihre Existenz beginnt nicht erst mit dem Erlernen der Sprache, sondern dies setzt (als Sprachkompetenz wie man heute sagen würde) ihre Existenz vielmehr schon voraus. Freilich sind diese Allgemeinbegriffe und Kategorien solche Realia, die nicht schlechthin nicht-sprachlich sind, sondern sich vielmehr - als "Schemata" im kantischen, beziehungsweise als kathólou im aristotelischen Sinne - im "begrifflichen Begreifen" wesenhaft vollenden und darin, anders als die "Ideen" im platonischen Sinn, zu sich selbst finden.

Selbst ein vergleichsweiser einfacher Klassenbegriff wie zum Beispiel "Obst" ist in gewisser Hinsicht schon eine solche, je schon inwendige oder denkimmanente Gestalt, denn weder wächst Obst selbst an einem Baum (sondern dort wachsen Äpfel, Birnen oder Kirschen), noch kann man Obst an sich essen (sonst wüßte man zu sagen, wie Obst an sich schmeckt, man weiß aber rein sensuell nur soviel, daß Äpfel und Birnen ganz verschieden schmecken). In einem noch strengeren Sinne als für derartige Verallgemeinerungsbegriffe gilt das, was Augustinus hier (in teils aristotelischer, teils platonischer Tradition) anführt, aber für die eigentlichen, logisch nicht weiter ableitbaren Kategorien, also die Grundstrukturen des Denkens wie Einheit, Vielheit, Quantität, Qualität, Möglichkeit, Notwendigkeit etc. Was für diese Denk-Kategorien schon richtig ist - daß sie der sensuellen Erfahrung vorausliegende Realia sind -, gewinnt noch eine ausgezeichnete Bedeutung für jene selbst nicht kategorialen, sondern selbst seinshaften Wesenheiten oder Ideen im eigentlich platonischen Sinn, die ganz offenkundig nicht sensuell (oder sprachlich) erworben, sondern allein in wieder-erinnernder unmittelbarer Erfahrung, also in ursprünglicher Anamnesis erfahrbar sind. Diese "Urphänomene" oder Ursprungserinnerungen sind - im Gegensatz zu den zwar sprach-vorgängigen, doch in Hinblick auf ihren Charakter sich gleichwohl wesentlich in Sprache entfaltenden Kategorien - selbst seinshafter Natur. So hat die Idee des "Schönen-und-Guten" (kalós) in verschiedenen Sprachen zwar ganz verschiedene Namen, doch die Tatsache, daß die Idee "Schönheit-und-Gutheit" als solche überhaupt und überall existiert, daß dem herkünftigen Erinnern eine begriffslogisch und kategorial niemals ganz einzuholende Urgestalt von diesem Schönen-und Guten überhaupt innewohnt, zeigt, daß dies eine Wesenheit, eine eigenständige Realität ist. Auch wenn die Wesenheiten Liebe oder Wahrheit in allen Sprachen anders heißen, so sind doch - durch alle Sprachen hindurch und völlig unabhängig von der Sprache als Sprache - deren einwohnende Ursprungserinnerungen immer schon real und anwesend, so daß etwa durchaus auch ein blinder oder stummer Mensch ihrer teilhaftig ist, aber auch jedes kategoriale Reflektieren dieses Sein in seiner Realitätsfülle nicht einholen kann, sondern dieses vielmehr seinerseits je schon als Maßstab, wie bewußt oder unbewußt auch immer, zur Voraussetzung hat. Im Erinnern selbst "wohnt" also demnach offenbar diese herkünftige "Idee" - und vor allem auch die Idee eines Herkünftigen selbst. So führt Augustinus' Versuch, das Sein des Erinnerns selbst wiederzuerinnern, folgerichtig zu der entscheidenden Frage:

"Woher nun und auf welchem Wege traten diese Dinge [die Realia, Ideen oder Herkunfts-Erinnerungen] in mein Erinnern? Ich weiß nicht, wie's geschah. Denn als ich sie kennenlernte, glaubte ich nicht einem fremden Geist, sondern erkannte sie wieder in dem meinigen (in meo recognovi), anerkannte sie als wahr und vertraute sie ihm an, als stellte ich sie nur zurück an ihren Ort, um sie von da hervorzuholen, wann ich wollte. Dort in meinem Geiste also waren sie, und schon bevor ich sie kennengelernt (antequam ea didicissem); nur in meinem Erinnern waren sie nicht [das meint hier: im aktuellen Gedächtnis, im Bewußtsein, waren sie nicht] (...) Wo also denn? Oder warum erkannte ich sie, als sie ausgesprochen wurden, und sagte mir: 'So ist es. Es ist wahr'? Doch nur deshalb, weil sie bereits auch im Erinnern waren, freilich noch so fern und tief verborgen, gleichsam in entlegenen Höhlen (...) Also finden wir: jene Dinge lernen, von denen wir nicht durch die Sinne Bilder schöpfen, sondern die wir ohne das Mittel des Bildes, so wie sie sind, an und durch sich selbst inwendig schauen (per se ipsa intus cernimus), heißt nichts anderes, als daß wir das, was ungesammelt und regellos im Erinnern enthalten war, nun verstehen lernen, zusammenzulesen (...)" (10,17)

Jenseits der äußerlichen "Eindrücke" des zuvor angesprochenen Engramm-Modells erscheint aus Augustinus' inner-anamnestischer Perspektive das Lernen und Denken genuin als ein je schon innewohnendes Erinnern; nicht als ein "Verschlingen" von äußeren Dinge, Worten und Zeichen, sondern als ein aufweckendes Wieder-Erinnern des je schon im Innern Schlummernden. Demnach übergeht das angesprochene weitverbreitete tabula-rasa-Modell nicht nur allzu großzügig ganze Regionen dieses Urphänomens - nämlich alle jene Formen des Erinnerns, die ohnehin nicht sensuell erworben sein können -, sondern es stellt den Sachverhalt von Grund auf auf den Kopf, indem es das ursprünglich je schon Erfüllte - die mit herkünftigem Erinnern je schon begabte Seele - als "erst noch zu füllende Leere" in sein Gegenteil verkehrt. Wenn dasjenige, was offenbar erst alles gestalthafte und sinnerfüllte Erkennen ontisch ermöglicht, aber derart gründlich entleert wird, heißt das jedoch nichts anderes, als daß die Frage - und die eigentliche Aufgabe - des Erinnerns überhaupt verkannt, ein herkünftiges Erinnern als solches für obsolet erklärt wird. Es erweist sich die scheinbar eingängige Antwort der Engramm-Ontologie selbst schon als Ausdruck der Vergessenheit.

Allein, das als Sein tatsächlich wirkende Erinnern - als das Ontische vor aller Ontologie - kümmert sich selbst offenbar wenig um solche logischen Modelle, denn es selbst "vergißt nicht" und "vergißt sich nicht", es erinnert sich seiner weiterhin und fragt auch - durch uns hindurch - weiter, so wie es auch in und durch Augustinus schon "weiterfragt". Das herkünftige Sein des Erinnerns in seiner wirklichen Lebendigkeit erweist sich bei näherer Betrachtung gerade so "selbstverständlich" und gerade soweit "erklärt" wie der tägliche Sonnenaufgang, das Blühen einer Blume oder die fortwährende Entstehung von Leben. Die erstaunlichsten Rätsel stecken im Nächstliegenden und scheinbar Selbstverständlichen. Mit einem solchen ursprünglichen Staunen (to thaumázein) aber beginnt, wie Aristoteles sagt, und endet zugleich, wie Platon hervorhebt, jedes Philosophieren.

Ist es vielleicht deshalb so, weil dieses Staunen der Selbstvollzug des ursprünglichen Erinnerns ist, und weil Philosophieren im platonischen Verständnis Anamnesis, Teilnahme an diesem erstaunlichen Sein ist? So daß man durchaus sagen kann: wo kein solches Staunen ist, da ist auch kein wirklich herkünftiges Erinnern und kein ursprüngliches Philosophieren?

Um die Kostbarkeit und Bedeutung dieses in sich inständigen Erinnerns zu vergegenwärtigen, ist aber, wie man am Beispiel des Augustinus sehen kann, ein Sich-Aufschließen des Erinnerns in sich selbst für sich selbst erforderlich, denn nur so "aufgeschlossen" vermag sich Erinnern in seinem Sein als Sein allererst wahrzunehmen. Diese Wahrnehmung ist ein Staunen im und vor dem wieder-erinnerten Sein, von dem Augustinus sagt: "(...) Groß ist die Macht meines Erinnerns, gewaltig groß, o Gott, ein Inneres, so weit und grenzenlos. Wer ergründet es in seiner ganzen Tiefe? Diese Kraft gehört meinem eigenen Ich hier an, sie ist in meiner Natur gelegen, und gleichwohl fasse ich selber nicht ganz, was ich bin. So ist die Seele zu eng sich selbst zu fassen (ergo animus ad habendum se ipsum angustus est)? Wo aber ist es, was sie an eigenem nicht fassen kann? Ist es etwa außerhalb, nicht in ihr selbst? Wie also faßt sie es nicht? Ein groß Verwundern überkommt mich da, lähmendes Staunen (stupor) ergreift mich (...) (8,15)

Doch mit diesem "lähmenden Staunen" angesichts der ursprünglich erfahrenen unhintergehbaren und uneinholbaren Vorgängigkeit des Erinnerns kann und will sich, zumindest in einer Hinsicht, der zum christlichen Glauben bekehrte Augustinus - und nichts kennzeichnet deutlicher in aller Nähe auch den Abstand vom Philosophieren eines Platon oder gar vom Fassenkönnen dieses Erstaunlichen und Aporetischen im anfänglichen olympischen Mythos - nicht abfinden. Im Gegensatz zur teuthisch-verzauberten Neuzeit erstrebt Augustinus nicht lediglich eitle Selbsterforschung der menschlichen Vermögen, sondern er sucht die unmittelbare Begegnung mit dem Inständigen selbst, mit dem Sein, mit Gott. Doch erlaubt auch der neue, christliche Gott noch dieses Staunen?

Nicht dieses Fragen nach dem Sein selbst - was auch für Sokrates/Platon und den ursprünglichen olympischen Mythos keineswegs weniger wesentlich ist - kennzeichnet den Abstand, sondern eher die Tatsache, daß die ursprüngliche lichte Weite und Gelassenheit des olympischen Kosmos, der noch für so viele Wesenheiten und schwerzufassende Realitäten Platz hatte und dem so viele Gegebenheiten noch ein "Gut" und ein Geschenk waren, offenbar geschwunden ist und einem scheinbar notgedrungenen Eifer des nunmehr ganz auf sich allein gestellten Menschen gewichen scheint, dem alles Seinshafte, was ihm "unterwegs" im herkünftigen Erinnern begegnet - und sei es die Realität des grenzenlosen Erinnerns selbst -, als gleichsam "noch nicht göttlich genug" erscheinen will.


Augustinus' Memoria-Verständnis zwischen Phänomenologie und christlicher Theologie

Augustinus will, wie er selbst sagt, in seiner Gottsuche auch "über das Erinnern noch hinaus" (vgl.17,26). Doch was für ein Ort könnte ein solches Außerhalb des Seins des Erinnerns sein, von dem umschlossen sich der menschliche Geist je schon vorfindet, in dem selbst er doch, wofür gerade Augustinus das beste Beispiel gibt, "ruhelos sucht", bis er schließlich - und dies ist freilich die neue, die christliche Hoffnung - "ruht in Gott"? Muß ein solches "Außerhalb" oder "Darüberhinaus" nicht notwendig der Eintritt in das Reich des Vergessens sein? Sollte die von Augustinus so innig ersehnte Ruhe in Gott zuletzt dies sein? Ist es tatsächlich der Wunsch nach Erlösung vom ruhelosen Erinnern selbst, die Einkehr in die Verschwiegenheit des Vergessens? Aber gibt es diese "Ruhe"? Kann sich das Erinnern selbst vergessen?

Zweifellos liegt Augustinus eine solche Konsequenz - gleichwohl sie in einer bestimmten Hinsicht durchaus in der Logik einer jeden eschatologischen und auf "Erlösung" ausgerichteten Religion liegt - zunächst fern, denn in Wirklichkeit heißt dieses "über das Erinnern noch hinaus" bei ihm ja keineswegs, daß er das tätige Erinnern "einstellt", das "Erinnern vergißt", sondern daß er, im Gegenteil, nur "noch tiefer", das heißt, im meminissem dei Gott erinnern will. Doch auch dieses meminissem dei ist ein meminissem dei, ist ein Erinnern (wobei hier einmal die Frage, ob und inwiefern dieser gesuchte christliche Gott ein möglicherweise je schon "voraus-gestellter" ist, außer acht gelassen werden soll). Augustinus sucht Gott, aber allein dieses "Suchen" heißt doch schon, daß er tatsächlich selbst dort noch oder je schon wieder erinnert, wo er glaubt, "darüber hinaus" zu sein, denn außerhalb des Erinnerns, im Vergessen, gibt es kein Suchen, da die Vergessenheit in der Tat das Nicht-Suchen schlechthin ist (gleichgültig, ob man es nun als befreiendes Nicht-Suchen-Müssen oder als tragisches Nicht-Suchen-Können versteht). Wenn Gott also schon nicht außerhalb des Erinnerns gesucht werden kann, kann er dann außerhalb gefunden werden?

Gewiß heißt "Gott glauben" in gewisser Hinsicht auch, wie Kierkegaard sagt, "das Unmögliche glauben", das heißt, Gott als das, was auch das scheinbar Unmögliche möglich macht, glauben. Insofern ist - bei Gott (oder genauer gesagt: im Glauben) - alles möglich. Doch kann sich dieser unerschütterliche Glaube als solcher (an das "Möglichwerden des schlechthin Unmöglichen" im Sinne Kierkegaards) denn in seinem realen Vollzug wirklich außerhalb des Erinnerns, also im Vergessen, vollziehen, oder doch allenfalls nur "an ihm vorbei"? Ist der Glaube selbst am Ende - wie das Wissen auch - ein Gegenspieler eines unmittelbaren Erinnerns, gar ein geheimer Verbündeter der Vergessenheit? Ist vielleicht die "Gewißheit", Gott "gefunden" zu haben, "in Gott zu ruhen" und ihn ergo nicht mehr suchen zu müssen, nicht überhaupt der Irrtum jedes positiven Glaubens, die dem unmittelbaren Erinnern (das auch um die Vergessenheit weiß) selbst von Natur her gerade fremd ist? Ist "Gott" als Ausdruck der Inständigkeit als solcher wirklich etwas in diesem Sinne Verfügbares, dessen man sich zu ermächtigen wüßte?

Diese Fragen wirft das Erinnern selbst dann auf, wenn es sich seines eigenen Seins innebleibt. Gerade Augustinus wird von diesem unveräußerlichen Fragen des Erinnerns selbst umgetrieben und angespornt zum Suchen. Und so gewiß jene tiefsten Schichten des Erinnerns, die Augustinus sucht, das meminisse dei, tatsächlich einen anderen Grad der Ursprünglichkeit des Erinnerns darstellt als etwa ein bloßes Reflektieren dieses Phänomens oder gar ein allein im eigenen "Ich" sich umhertreibendes Erinnern, so sehr unterscheidet sich doch auch die wirklich ereignishaft erinnerte Gottheit von der Erinnerung einer bestimmten, positiv und (vermeintlich) verfügbar gewordenen Gottes-Vorstellung. Dies hat im christlichen Zusammenhang - und weit darüberhinaus - vielleicht niemand deutlicher erkannt als Meister Eckart, der allen Instrumentalisierungsversuchungen dieses unmittelbaren Erfahrens entgegenhält, alle bloßen Vorstellungen von Gott "fahren zu lassen", um sich so - "ledig, abgeschieden und leer" - allererst dem wirklichen Zuspruch und Anruf eines erfahrbaren Inständigen öffnen zu können.

So ist - bei aller brillanten phänomenologischen Erhellung des Seins des Erinnerns und in Verbindung damit, im Elften Buch der CONFESSIONES, des Wesens der Zeit - nicht zu übersehen, daß Augustinus' "Bekenntnisse" gleichwohl auch eine theologische Rechtfertigung der erfahrenen Bekehrung bleiben, wenn auch auf weiten Strecken in der ursprünglichen Form eines unmittelbaren Zwiegesprächs mit und vor Gott als einem "Du" (Buber). Das bedeutet aber, daß die hermeneutische Selbsterfahrung des Erinnerns hier übergeht in eine besondere christliche Theologie, daß das ursprüngliche Erinnern des Seins des Erinnerns gleichsam überwölbt wird von einer christlich-theologischen Soteriologie und Dogmatik. Die Auseinandersetzung der christlichen Kirche mit der Gnosis und dem "Heidentum" bleibt auch bei Augustinus nicht ohne Auswirkung auf die Bewertung des Seins des Erinnerns. Die ursprünglich mnemosynische Religion ist nun einmal keine originär christliche und beginnt nicht erst mit ihr (gleichwohl, wie in anderem Zusammenhang zu sehen ist, auch Jesus wieder den Stellenwert eines unmittelbar mnemischen "re-ligari" in Erinnerung ruft), sondern sie ist eine gleichsam unvordenkbare Religiosität, wie sie freilich im olympischen Mythos eine besonders tiefe Ausprägung gewonnen hat. Die sokratisch-platonische Anamnesis-Philosophie ist nun einmal keine Leistung der christlichen Theologie, sondern konnte in dieser Ursprünglichkeit und Unbefangenheit wohl nur auf dem Boden einer solchen Welthabe erwachsen, der zwischen Sein und Dasein noch kein Abgrund klaffte.

Woran eine, im Verlauf ihrer Geschichte zunehmend positive und apologetische Formen annehmende christliche Theologie in Hinblick auf Ausprägungen vor-christlicher Religiosität Ärgernis nimmt, ist so vielleicht auch die unhintergehbare Faktizität des herkünftigen Erinnerns selbst, das nicht verstummende und sich selbst beständig wiedererinnernde Erinnerungssein selbst, das ja zugleich auch immer neu in Erinnerung ruft, daß es überhaupt ein "Davor" und "Je-schon" gibt, was aufgrund des jüdisch-christlichen Dogmas von der historisch-positiven Auffassung des durch die jüdische beziehungsweise christliche Offenbarung gestifteten "Anfangs" eigentlich gar nicht sein darf; ja sogar ein solches oikumenisches Je-schon, das gleichsam als fortwirkendes fruchtbares Ärgernis jedem allzu vermenschlichten Glauben an bestimmte Gottes-Vorstellungen in Erinnerung ruft: "Im Anfang war das Erinnern...", das heißt, die unübertragbare und unhintergehbare Aufgabe des unmittelbaren Erinnerns selbst.

Ohne dieses aber bleiben auch die ursprünglichsten Worte stumm, wird aus dem belebenden Geist jener "Buchstabe, der tötet". Nietzsches Klageruf "Zwei Jahrtausende beinahe und nicht ein einziger neuer Gott!" ("Antichrist", 19.Stück) ist auch der Rückruf in eine solch unmittelbare Seinsnähe, die dem neuzeitlichen Nihilismus gewachsen sein könnte. Es bildet sich hier jener tiefgreifende Prozeß aus, den man den Übergang von der kosmisch-mythischen zur anthropozentrischen Welthabe genannt hat, in dessen Verlauf eine Wissenschaft von Gott Schritt um Schritt die anwesende Wahrheit des Seins und die unmittelbare Begegnung mit dem Erstaunlichen und Unvergeßlichen verdrängt. Aus der Nähe zum Sein wird eine Nähe zur Schrift, aus den Ursprungs-Mythen positives Wissen und Glauben und aus dieser Not schließlich, im abendländischen Nihilismus, eine Tugend.

Doch was späterer Orthodoxie vielfach als heidnisch oder abgöttisch gilt, klingt bei Augustinus selbst vorerst nur ganz zaghaft und als eine im wesentlichen noch ursprünglich erfahrene Aporie an, in die hinein den gewissenhaften Philosophen sozusagen der eifrige und rechtgläubige Theologe stürzt. Es ist aber Augustinus selbst, der sich im befragenden Gespräch vor Gott wiederholt gezwungen sieht, die Möglichkeit einer göttlichen Anwesenheit und eines beata vita außerhalb des Seins des Erinnerns überhaupt zu verneinen, um gleichzeitig hervorzuheben, daß der notwendig suchende Weg des Menschen kein anderer Weg sein kann als der "Heimweg" des sich seiner Herkunft wiedererinnernden Erinnerns:

"Aber ist es nicht dies Selige Leben (beata vita), was sie alle wollen, und ist auch einer nur, der es nicht will? Woher kennen sie es, daß sie es so sehnlich wünschen? (...) Und ich mühe mich ab, zu ergründen, ob diese Kenntnis aus Erinnerung kommt. Denn ist sie dort, so waren wir zu einer Zeit schon einmal selig (...) Ich frage, ob wir das Selige Leben im Erinnern haben. Denn wir liebten es ja nicht, wenn es uns unbekannt wäre (...)" [20,29] "(...) Siehe, welchen Raum ich durchmesse in meinem Erinnern, um Dich zu suchen, Herr, und es war nicht außerhalb, wo ich Dich gefunden habe (et non te inveni extra eam) (...)" (24, 35)

In Augustinus´ Erfahrung kann Gott also weder außerhalb des Erinnerns gesucht noch gefunden werden. Zu dieser Einsicht des non extra memoria gelangt Augustinus bemerkenswerterweise nicht unmittelbar aufgrund seiner platonischen Vergangenheit und heidnischen Vorschule, sondern gerade im theologischen Versuch, diese zu überwinden. Er, der nach eigenem Bekunden "alles Wahre", was er "bei den Platonikern gelesen", bei "Paulus wiedergefunden" hat, freilich mit dem Unterschied, daß dieser erst den in allem entscheidenden "Gnadencharakter Gottes (gratiae)" angemessen "zu preisen" verstehe (vgl.Siebtes Buch, 21,27), kann deshalb zu diesem Urteil der ontologisch (beziehungsweise theologisch) nicht einholbaren und nicht relativierbaren Seinshaftigkeit des herkünftigen Erinnerns gelangen, weil er selbst dieses Sein und dessen göttliche Herkunft tatsächlich in ursprünglicher Anamnesis erfährt. Er findet das Sein des Erinnerns gleichsam auch vor dem neuen, christlichen Gott bestätigt, und - im wesentlichen - auch durch das Zeugnis Jesu bezeugt. So muß das Erinnern selbst etwas besonders Ursprüngliches und Göttliches sein, dem Augustinus in seiner Trinitätstheologie insofern Rechnung trägt, als er die christliche Dreifaltigkeit als Einheit von "memoria, amor und intellegentia" deutet (vgl. De trinitatis 14,8ff.), das herkünftige Sein des Erinnerns also gleichsam als die tiefste Vergegenwärtigungsstufe des Göttlichen beziehungsweise als "Analogon" zum Vater auffaßt (während "die Liebe" Christus und "der Geist" der Heilige Geist ist).

Vor diesem Hintergrund ist es aber in Wahrheit auch kein bloßes "sprachliches Mißverständnis" und kein bloßes Sophisma, wie häufiger zu lesen ist, wenn Augustinus gerade auch die sogenannte Vergessens-Aporie als Argument für die uneinholbare Vorgängigkeit des Seins des Erinnerns anführt: "Wie aber, wenn ich Vergessenheit (oblivionem) sage und auch hier erkenne, was ich sage? Wie erkenne ich die Sache ohne Erinnern? (...) Wenn ich des Erinnerns gedenke, so ist das Erinnern selber durch sich selber gegenwärtig; aber wenn ich der Vergessenheit gedenke, so ist beides, Erinnern und Vergessenheit, gegenwärtig: das Erinnern, durch das ich gedenke, die Vergessenheit, deren ich gedenke. Aber was ist Vergessenheit anderes als ein Ermangeln des Erinnerns (privatio memoriae)? (...)" (16,24)

Obwohl Vergessenheit eigentlich die Abwesenheit des Erinnerns selbst ist, kann man sich seltsamerweise zugleich an eben diese Vergessenheit selbst (also an das "Nicht-Erinnern" selbst) erinnern, ja, ebenso merkwürdig und ohne weiteres auch im Alltäglichen erfahrbar, sogar den Tatbestand des Vergessenhabens (also des "Nicht-Erinnerthabens") als solchen erinnern, gerade so, als kennte und behütete das einwohnende vorgängige Sein des Erinnerns in der Tat auch noch die Vergessenheit als seine eigene (scheinbare) Abwesenheit. Das Erinnern erhält und bewahrt sich also offenbar noch in und durch seine eigene Abwesenheit (die Vergessenheit) hindurch seinshaft als Erinnern. Das aber ist kein Sophisma oder bloßes Wortspiel, sondern drückt den eigentlich entscheidenden ontischen Vorrang des Erinnerns gegenüber dem Vergessen, es drückt das Sein des Erinnerns als den vorgängigen und unhintergehbaren "Ur-Grund" aus!

So wie Parmenides sich in seiner Ursprungs-Schau erinnert: "Nicht-Sein ist nicht, sondern eine 'Istigkeit' (ein Sein) ist", das heißt, das Inständige selbst kann sein (eigenes) Nicht-Sein zwar denken, doch dasjenige, was dies denkt, ist selbst immer schon und immer noch eine Inständigkeit, so besagt Augustinus' Erfahrung: das Sein des Erinnerns ist immer schon als der vorausliegende und unhintergehbare Ur-Grund da, das heißt, ein Unvergeßliches durchstimmt selbst noch seine eigene Vergessenheit. Das Sein des Erinnerns schließt zwar in sich das Vergessen ein, erweist sich aber noch in seiner Negation als das Inständige. Es ist sozusagen jenes Sein, das in der Tat noch in seinem Nicht-Sein "da" ist.

Diese seltsam gegenwendige und doch, zumindest in ihrer einfachen Form, alltäglich vielfach erfahrbare Vergessens-Aporie des Augustinus verweist im weiteren auch auf jene, im Zweiten Kapitel noch näher zu betrachtende, sokratische Aporie des Suchens, wonach es "unmöglich ist, etwas zu suchen, was man nicht schon kennt" (vgl. MENON, 79e - 81 e). Suchen setzt immer schon zweierlei voraus: eine Abwesenheit und Vergessenheit des Gesuchten einerseits (denn sonst müßte man ja gar nicht suchen), aber zugleich eine - dieser Abwesenheit und dieser Vergessenheit ihrerseits notwendig noch vorausliegende - ursprüngliche Je-schon-Anwesenheit im umgreifenden Erinnern (denn sonst könnte man "es", das Gesuchte als dieses Vergessene aber einstmals Erfahrene, gar nicht suchen). Würde man das Gesuchte also vorgängig als das Unvergeßliche nicht je schon erfahren haben, es gäbe gar kein Suchen; mehr noch, es gäbe kein Vergessen und kein Erinnern, sondern nur eine wahrhaft gespenstische "Ruhe".

Dies meint aber im gegebenen Zusammenhang auch: Weste in der Vergessenheit selbst nicht schon von Natur her ein Unvergeßliches, man könnte es nicht nur nicht wiedererinnern, man könnte "es" nicht einmal vergessen (denn dieses "es" wäre in diesem Fall völlig nichtig und grundlos). So kann man in gewisser Hinsicht in der Tat sagen, daß das Vergessen die Voraussetzung für das Erinnern (als Wieder-Erinnern) ist. Freilich ist die bei Augustinus eigentlich entscheidende Einsicht die, daß ein vorgängig-umgreifendes Unvergeßliches - nämlich dieses herkünftige Sein des Erinnerns selbst als jene spätere unhintergehbare "Er-Innerung" Hegels - wiederum die noch vorgängigere und selbst grundlose Voraussetzung für dieses, das Suchen erst in Gang setzende Vergessen ist. Das heißt aber: ein Unvergeßliches anwest.

Um so verwunderlicher aber bleibt es, daß Augustinus - trotz aller unmittelbaren und als unwiderlegbar gefundenen Erfahrung der Seinshaftigkeit des Erinnerns - dennoch vom Erinnern nur als einer Art "Durchgangsstation" auf dem Weg zum christlichen Gott spricht, und wenn er, die Memoria-Betrachtungen fast gewaltsam abschließend, in einiger Verlegenheit "gegen" das Sein des Erinnerns nur indirekt jenes verhängnisvolle anthropozentrische GENESIS-Wort von der besonderen Auserwähltheit der Menschen und ihr "Herrschaftsrecht" (vgl.Gen 1,26) anführt: "Hinaus will ich selbst über diese meine Kraft, die Erinnern heißt, hinaus will ich über sie, um an Dich zu reichen, süßes Licht! (...) Denn Erinnern haben Vieh und Vogel auch, wie fänden sie sonst Nest und Lager wieder (...)" (17,26)

Zweifellos erinnern auch die Vögel, aber sollte das wirklich gegen die Natur als jene hölderlinische "Allinnigkeit", gegen das Erinnern und gegen Gott sprechen? Die Antwort gibt wohl die Trinitätsschrift des Augustinus.

Die kurzen Betrachtungen zum X. Buch von Augustinus' CONFESSIONES sollten im gegebenen Zusammenhang nur an die eigentliche Frage heranführen. Es ist hier nicht die Aufgabe, jene mit den CONFESSIONES einsetzende christliche Theologie des Erinnerns weiter zu verfolgen. Es gilt hier auch nicht über das Erinnern "noch hinaus" zu gehen, sondern zunächst weiter seinen Pfaden zu folgen und tapfer bei der hermeneutischen Erfahrung dieses Geschehens zu verweilen. Die Gedanken des Augustinus haben einige Fragen ans Licht gebracht, die nachfolgend als solche noch etwas genauer zu erörtern, zumindest in ihrer Fragwürdigkeit zu verdeutlichen sind: Ist die Zeit und Geschichtlichkeit allein ein Resultat des Erinnerns oder ist das Erinnern selbst nicht auch etwas Vergängliches und Endliches? Wie ist es mit der vorgängigen Seinshaftigkeit des Erinnerns zu vereinbaren, daß tatsächlich auch seine Abwesenheit, das Vergessen, und vor allem das tatsächliche Vergessen des Erinnerns selbst und die Seinsvergessenheit sind?

Diese Fragen, die, wie zu sehen war, das herkünftige Erinnern selbst aufwirft, verweisen also insbesondere auf die Zusammenhänge von Erinnern und Zeitlichkeit (beziehungsweise Geschichtlichkeit), von Erinnern und Vergessen, aber auch auf das zunächst wohl noch vordringlichere Problem des Zusammenhangs von Erinnern und sinnlich gegebener Welt beziehungsweise dem sinnlichen Wahrnehmen überhaupt, von dem her sich doch so tiefgreifend das alltägliche Bewußtsein und die zeitgenössischen Wissenschaften und Ontologien offen oder insgeheim je schon leiten lassen, wenn die Frage nach dem gestellt wird, was "Wirklichkeit", was Sein also sei.




Anmerkungen:

(21) Ich folge hier weitgehend, aber nicht wörtlich der Übertragung von J.Bernhart, Augustinus, Bekenntnisse, FfM. 1987

(22) Vgl. K.Albert, Griechische Religion und Platonische Philosophie, Hamburg 1980, S.78

(2) "Das Entscheidende ist: alles ist möglich bei Gott. Dies ist ewig wahr, und mithin wahr in jedem Augenblick. Man sagt es wohl so hin im Alltagsleben, und im Alltagsleben sagt man es so hin, jedoch die Entscheidung fällt erst, wenn der Mensch zum Äußersten gebracht ist, so daß da menschlich gesprochen keine Möglichkeit mehr ist. Dann gilt es, ob er glauben will, daß alles möglich ist bei Gott (...) Mithin ist Rettung menschlich gesprochen das Allerunmöglichste; aber alles ist möglich bei Gott! (...) so ist Gott dies, daß alles möglich ist" (vgl. S.Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Gütersloh 1982, S.34ff.)

(24) Diesen zentralen Gedanken bekräftigt Meister Eckart immer wieder: man müsse "um der Gottheit willen" Gott bitten, "daz wir gotes ledic werden" und "daz (man) got durch got laze" (vgl. DW 5,413; 2,487; 3,322); Die ganz eigenständige und mnemontische unio-Erfahrung bei Eckart gipfelt in einer Theologie der absoluten Gegenwärtigkeit der "Gottgeburt": "Der Vater gebirt sinen sun ane underlaz, und ich spreche mer: er gebirt mich sinen sun und den selben sun. Ich spreche mer (...) er gebirt mich sich und sich mich..." (vgl.DW1,109). Diese "Gottgeburt" als creatio perpetua und incarnatio continua ist für Eckart also ein anfang- und endloses, stets gegenwärtiges Ereignis, das er auch den "Durchbruch" nennt, in dem sozusagen Gott erst zu sich selbst als Gott kommt; Vgl. Meister Eckart, Die deutschen und lateinischen Werke, hrsgb.im Auftrag der DFG, Stuttgart 1936ff. (Die deutschen Werke (DW), hrsgb.v.J.Quint); vgl. auch die Sammlung: Meister Eckart, Einheit im Sein und Wirken, hrsgb.v.D.Mieth, München/Zürich 1989, 2.Aufl., S.81ff.("Von Abgeschiedenheit") und S.150ff. ("Beati pauperes spiritus...")

(25) Der Zusammenhang von Zeit und Erinnern ist fundamental. Nicht zufällig stößt Augustinus im Anschluß an die Erörterung der memoria im Zehnten Buch (und im Gefolge der Absicht, auch über das Erinnern noch hinaus zu wollen) im Elften Buch auf das Phänomen der Zeitlichkeit, um sich freilich am Ende bemerkenswerterweise wieder erneut auf das Sein des Erinnerns insofern zurückgewiesen zu finden, als allein die memoria überhaupt erst einen Begriff von tempus konstituiert und bereitstellt. Von letzterem Weg läßt sich auch der vorliegende hermeneutische Versuch leiten, so daß die Blickbahn auf das Sein hier nicht vom Begriff der Zeitlichkeit ihren Ausgang nimmt - wie es paradigmatisch in Heideggers SEIN UND ZEIT der Fall ist -, sondern vielmehr vom Erinnern selbst ausgeht. Daß auch noch ein als Existential gefaßtes "In-der-Zeit-sein" ohne den Gegenschwung eines herkünftigen Seins-Anrufs des Erinnerns zwangsläufig Gefahr läuft, mißverstanden zu werden, zeigt Heideggers "Kehre" und sein Philosophieren nach SuZ (vgl. dazu auch M.H., Beiträge zur Philosophie, a.a.O., S.283ff.).

(26) Vgl. M.Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1985, 5.Aufl., S.7-138

(27) Vgl. A.Schindler, Wort und Analogie in Augustinus' Trinitätslehre (= Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, Bd.4), Tübingen 1965, S.201ff.

(28) "Richtig ist, das zu sagen und zu denken, daß 'Istigkeit'/Sein ist (...) Nichtsein ist nicht (...)" (vgl.Parmenides, Vom Wesen des Seienden, a.a.O.,Fr.6, S.16)

(29) Vgl. H.-G.Gadamer, Die Kontinuität der Geschichte, a.a.O., Werke, Bd.2, S.145

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