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Darsteller, Gestik und Choreographie.

Auch die Darsteller sind für den Regisseur im wesentlichen ein solches Intonationselement. Im Gegensatz zum physisch präsenten Theater, das, so der Regisseur, "nur so lange (existiert), wie ein Schauspieler als Schöpfer tätig ist", nimmt der Darsteller im Film, so wie ihn Tarkowskij versteht, naturgemäß eine vergleichsweise "instrumentelle" Rolle ein. Er ist in gewisser Hinsicht eine "lebende Marionette": "Für den Film dagegen ist eine solche Selbststrukturierung, die Verteilung der Akzente, der Kräfte, der Intonation durch den Schauspieler entschieden abzulehnen, da der Schauspieler nicht die Teile kennen kann, aus denen sich der Film zusammensetzen wird. Seine einzige Aufgabe besteht darin, zu leben und dem Regisseur zu vertrauen." Damit wird die Bedeutung der Persönlichkeit und der Kunst der Darsteller, wie schon ein flüchtiger Blick in die Filme Tarkowskijs zeigt, keineswegs geschmälert, vielmehr kommt ihnen die entscheidende Aufgabe zu, "die Wahrheit eines Seelenzustandes" zu verkörpern.

Der Authentizität der Darstellerkunst, die nicht im Sinne eines psychologischen Nachahmens, sondern hier vielmehr als Verkörperung von Existentialien zu verstehen ist, kommt mithin eine außerordentliche Bedeutung zu. Zugleich ist die Konsequenz, ja zuweilen Rigorosität unverkennbar, mit welcher der Regisseur selbst die kleinsten Nuancen in Gestalt, Gestik und Artikulation der Darsteller "steuert" und in die Suche nach der Wahrheit der inneren Zeit einbezieht. Wenn Hegels Satz, daß das "Wesen erscheinen muß" und "die Erscheinung dem Wesen selbst wesentlich" ist, eines augenfälligen Belegs bedarf, dann findet man ihn in aller Deutlichkeit in diesen Filmen. Die Bestimmung, daß die Darsteller "die Wahrheit eines Seelenzustandes" zu verkörpern haben, heißt ja, daß sie das Wesentliche, aber gemeinhin Verborgene allererst physisch wahrnehmbar machen.

Es ist deshalb auch kein Zufall, wenn in Nostalghia die im Bann eines herkünftigen Erinnerns stehenden Figuren Andrej und Domenico sich auch in ihrer ganzen äußeren Erscheinung, ihrer Art, sich zu bewegen, und in ihrem Verhältnis zur Zeit von anderen Figuren, etwa von Eugenia, deutlich abheben. Zwischen den beiden todesaufgeschlossenen Männern, die von einem "lähmenden Staunen" ergriffen zu sein scheinen, wirkt die junge Frau zuweilen wie ein ahnungsloses großes Kind. Ihre gänzlich unterschiedlichen Bewegungsformen - man denke etwa an die Einstellung vor Domenicos Haus, wo Eugenia im trotzigen Sturmschritt zweimal ebenso gedanken- wie würdelos dem vermeintlich Verrückten gegenübertritt, während sich Andrej sehr scheu und rücksichtsvoll dem von einem langen Menschenleben hart Gezeichneten nähert - entspringen gänzlich unterschiedlichen inneren Rhythmen und Existenzweisen. Wie viel redet und wie wenig erinnert Eugenia, als sie sich im Hotelzimmer in Beschimpfungen Andrejs ergeht. Und wie beredt ist dagegen die verschwiegene innere Übereinkunft der beiden Todeingeweihten. In diesen unterschiedlichen Lebens- und Bewegungsrhythmen drücken sich insofern grundlegende "Existenzweisen" aus, eine Nähe und Gefaßtheit auch angesichts des Abgrundes des Seins hier und eine scheinbar sorglose Selbstvergessenheit dort. In diesem Sinne erscheint hier die "Wahrheit von Seelenzuständen" als das gemeinhin verborgene "Wesen, das erscheinen muß".

Als "das Tönen der Seele selbst" bezeichnet Hegel im Rahmen seiner Musikphilosophie einmal den Klang der menschlichen Stimme. Obwohl synchronisierte Filmfassungen dieses entscheidende Intonationselement im Film leicht verfälschen oder gar zerstören, in jedem Fall nur bedingt Rückschlüsse auf das Original zulassen, läßt sich die Bedeutung dieses Moments in Tarkowskijs Filmen doch allenthalben aufspüren. In Nostalghia wird dies etwa in einer Episode deutlich, die die Begegnung zwischen dem angetrunkenen Andrej und dem Mädchen Angela in der Wasserruine zeigt. Andrej erzählt, halb in gebrochenem Italienisch, halb in Russisch, dem Mädchen eine Geschichte:

Ein Mensch rettet einen anderen aus einer tiefen Pfütze. Er wagt dafür sein eigenes Leben. Sie liegen am Rand der Pfütze, sind erschöpft und atmen schwer. Schließlich fragt der Gerettete: "Und du?" - "Ich? Ich habe dich gerettet!" - "Idiot. Ich lebe dort. Ich lebe dort!" Und Andrej fügt kommentierend hinzu: "Er war sehr gekränkt..."

Obwohl das Mädchen die fremde Sprache nicht versteht, versteht es doch das Wesentliche dieser Geschichte vom Verstehen und Nicht-Verstehen. Stimme, Intonation, Mimik und Gestik führen hier offenbar zu einem Sich-Verstehen und auch Verstehen dessen, was vielleicht immer schon "diesseits des Gesprochenen" liegt: zu jenem verbum interius, das, wie die Musik und die Kunst überhaupt, immer schon einer ganz eigenen, ursprünglichen Logik gehorcht. "Bist du zufrieden?" fragt Andrej das Mädchen. "Womit zufrieden?" fragt Angela. "...mit dem Leben?" gibt Andrej zurück, und das Kind antwortet entschlossen: "Mit dem Leben - Ja." In der nur vom Geräusch einiger niederfallender Wassertropfen unterbrochenen Stille der Ruine greift eine Off-Stimme die Grundstimmung des Schriftstellers in der Fremde in Form eines Gedichts von Arsenij Tarkowskij auf: "Der Blick verschleiert sich ... / Beim Fest verzehr ich mich wie eine Kerze / Sammle im Morgengrauen mein geschmolzenes Wachs / Und les darin, wen zu beweinen / Und auf was stolz zu sein / Und wie in Leichtigkeit zu sterben / Wenn das letzte Stückchen Freude man verschenkt / Um danach sich im Schutze eines / Unterstandes wieder zu entzünden / Wie ein Wort..."

Die Darsteller vereinen in Tarkowskijs Filmen, insbesondere im Spätwerk, zwei seltene und so auf den ersten Blick kaum vereinbar scheinende Eigenschaften: Sie bewegen sich in einer Hinsicht fast "marionettenhaft", gleichsam wie in Bewegung versetzte, belebte Skulpturen durch Tarkowskijs streng geordneten Zeit- und Erinnerungs-Kosmos, doch zugleich sind sie auf eine ganz unmittelbare Weise prototypische Grundgestalten des Seelischen, unmittelbarer Ausdruck von existentiellen Gestimmtheiten. Die Darsteller verlebendigen und füllen nicht eine bestimmte "Rolle" im Sinne einer gewöhnlichen psychologischen Mimesis, vielmehr nimmt der Regisseur ihre streng choreographierte Ausdruckskraft als Ausgangsmaterial, um damit Inbilder, Existentialien des Daseins selbst zu verkörpern. Die Darsteller werden in Tarkowskijs Kosmos zu merkwürdig fremden und zugleich vertrauten Urgestalten des Seelischen.

Geräusche, Musik und Schweigen

Um einen Eindruck von Filmen zu bekommen, ist es manchmal hilfreich, für einige Zeit zunächst den Ton und danach einige Zeit das Bild auszublenden. Man bemerkt so relativ rasch, wie klischeehaft oft das eine und geschwätzig häufig das andere ist, während authentische Filmkunst dieser Probe leicht standhält. In Tarkowskijs Filmen aber, auch dies gilt wiederum in besonders ausgeprägter Form für das Spätwerk, zeigt sich, daß die Filme, ihre Darsteller, Landschaften und Weltbilder auch völlig ohne Ton "sprechen", so wie, was vielleicht noch seltener ist, auch die auditive Ebene dieser Filme häufig aus sich heraus lebt (gleichwohl das Ganze natürlich immer mehr und noch anderes ist als die Summe seiner Teile).

Wie schon angedeutet, sind Musik und Film für den Regisseur zwei im Grunde "parallele" Transformationsweisen von Wirklichkeit, die gerade deshalb im Film in gewisser Hinsicht miteinander "in Konflikt liegen". Vor diesem Hintergrund äußert Tarkowskij einmal den Gedanken: "Um das filmische Bild tatsächlich voll und umfassend tönen zu lassen, muß man vermutlich ganz zielbewußt auf Musik verzichten." Im Sinne der qualitativen Bestimmung der Zeitkunst als unmittelbare Seelenkunst könnte man umgekehrt sagen, je weniger das Filmbild selbst Seelisches zu vermitteln vermag, um so mehr ist Film auf Anleihen bei der Musik angewiesen, die so tatsächlich vielfach als bloßer "Seelenersatz" (und Ersatz für einen fehlenden eigenen authentischen Rhythmus) in Dienst genommen wird. Je mehr sich aber Film seiner selbst als originäre Zeitkunst bewußt wird und mit ureigenen Mitteln die durée interieure auszudrücken vermag, um so weniger muß er durch die hörbare Musik instrumentalisiert werden.

Auch in Tarkowskijs Filmen ertönt - wenngleich nur sehr punktuell und in besonderer Form - hörbare Musik, auch in Nostalghia. In der ersten Einstellung klingen einige Takte aus Verdis Requiem an (die übrigens ein Zitat aus dem später zu hörenden Schlußsatz aus Beethovens Neunter Sinfonie sind). Dieses sehr andächtige Thema wird bei Andrejs Tod am Ende des Films noch einmal wiederholt, jeweils überlagert von einem russischen Wiegenlied, das eine Frauenstimme leise summt, und entfernten Echos eines Hundegeheuls. Als Andrej Domenicos Zimmer betritt, also etwa in der Mitte des Films, erklingen einige Takte desselben Themas aus dem Schlußsatz von Beethovens Neunter, ehe die Musik abrupt abbricht. Dieses Thema wird noch einmal bei Domenicos Verbrennung angespielt und bricht ebenso plötzlich ab. In den meisten Filmen aber erklingt Bach-Musik, die der Regisseur besonders schätzt. In Solaris begegnen elektronische Variationen über ein f-Moll-Präludium Bachs, im Spiegel hört man einige kurze Bach- und Pergolesi-Themen, und in Opfer schließlich klingt zu Beginn und am Ende des Films das Grundthema auch in Gestalt der "Erbarme Dich"-Arie aus Bachs Matthäus-Passion an.

"Die Musik vermag in das Material bestimmte lyrische Intonationen hineinzutragen", schreibt der Regisseur, und ferner: "Mir schwebt noch am ehesten eine Methode vor, bei der die Musik gleichsam als poetischer Refrain aufkommt ... Der Refrain läßt in uns jenen ursprünglichen Zustand wiedererstehen, mit dem wir in diese für uns neue poetische Welt eintraten. Gleichzeitig läßt er sie uns nunmehr unmittelbar und von neuem erfahren." Die Musik bildet also zum einen für den Regisseur wiederum ein zusätzliches und spezifisches, hier als "lyrisch" bezeichnetes Intonationsmoment. Zum anderen erfüllt sie eine (filmzeitliche) "Refrain"-Funktion, indem sie, meist zu Beginn, in der Mitte und am Ende des Films, das Grundthema (wieder) anklingen läßt, auf diese Weise also etwas "unmittelbar wieder herbeiruft", das in diesem Film die "Nostalghia" und die "Andacht" als das Andenken des Seins selbst ist. Schon Sokrates verweist im Phaidon (73c-d) auf die besondere Fähigkeit der Musik, in diesem Sinne unmittelbar Wieder-Erinnerung in Gang zu setzen. So ist die Musik in Tarkowskijs Kosmos also im wesentlichen eine sehr sparsam und punktuell, aber gleichwohl sehr gezielt eingesetzte Klangfarbe des jeweiligen Grundthemas selbst, zu dem die Musik überdies in aller Regel in einem unmittelbaren inneren Zusammenhang steht.

In jedem Fall aber sind es nicht diese klassischen Musikkompositionen, die primär die auditive Ebene dieser Filme prägen, sondern vor allem Geräusche, aber auch Schweigen und Stille. "Eine auf wirklich adäquate Weise organisierte tönende Welt ist schon ihrem Wesen nach musikalisch, also eine zutiefst kinematographische Musik." Zu dieser "tönenden Welt" gehören in Nostalghia beispielsweise Regentropfen, Glockenrasseln, Hundejaulen, Klageweiber, Vogelgezwitscher, eine Kreissäge und, vor allem, Stille. Geräusche der empirischen Wirklichkeit also, aber keineswegs beliebige, sondern "auf wirklich adäquate Weise" durch die Kunst des Regisseurs orchestrierte. Dies meint hier wiederum vor allem, daß es solche Geräusche sein müssen, die - ähnlich wie die Schauplätze und Landschaften vor der Kamera - selbst "zeithaltig" sind.

In Regisseuren wie Bergmann, Bresson oder auch Ioseliani hat Tarkowskij in dieser Hinsicht zwar gewisse Vorbilder, doch bei ihm muß man vielfach tatsächlich von regelrechter Geräuschmusik sprechen. Es gibt in diesen Filmen nicht einfach Regen, sondern es regnet in den verschiedensten Gradationen, Klangfarben, im pianissimo und fortissimo, mal disktinkt und mal in anschwellenden Güssen. Die Regentropfen scheinen mal zu trauern und mal trommeln sie im Staccato eines Freudenfestes. So wie bestimmte arktische Ureinwohner viele Dutzende Bezeichnungen für die verschiedensten Zustandsformen des Schnees haben, so brauchte man auch zur Beschreibung dieser Regenmusik ein neues Wörterbuch.

Macht nun unsere Empfindung oder die Organisation des Regisseurs so etwas scheinbar Banales wie den Regen zur Musik, oder liegt der Rhythmus schon in ihm selbst und wir hören und bemerken es im allgemeinen nur nicht? Tarkowskijs Filmkunst gibt zu verstehen, daß man so nicht fragen darf, daß diese Trennung gerade der Irrtum ist, aufgrund dessen die heutige Zivilisation im Gefolge eines abgründigen Subjektzentrismus und der damit verbundenen heillosen Verdinglichung - zwei Seiten einer Medaille - die Welt in ihrem Zauber als auch der Mensch sich selbst zu verlieren droht. In diesem Sinne gibt die Kunst Tarkowskijs den Dingen die ihnen eigene Würde und innere Zeit wieder. Wo ein subjektzentristisches Denken überall nur noch "Gegen-stände" und "Objekte", aber keine lebendige "Mit-Welt" erkennt, da erweist sich gerade ein ursprüngliches poietisches Erinnern als eine Gegenkraft, die dem Dasein diese Verluste vor Augen führt und so zugleich etwas Vergessenes, aber zuletzt doch Unvergeßliches in Erinnerung ruft.

In diesem Kosmos des Weltzeitlichen und der Erinnerung fehlt das Laute und Lärmende, während die Stille und das Schweigen wieder zu sprechen beginnen. Im Schweigen liegt eine besondere Qualität, es ist eine Sprachlosigkeit besonderer Art, denn anders als die Stummheit sagt das Schweigen in diesem Film etwas von dem, was man nicht sagen kann. In diesem Sinne spricht das Schweigen. Es ist hier durchaus dialogisch, insofern es die Frage des Daseins nach seinem Sinn auf eine Art gültiger beantwortet als alle Eloquenz und Rhetorik. Der Film als Zeitkunst eignet sich in bestimmter Hinsicht besonders dazu, diese dialogische Wahrheit des Schweigens sinnfällig zu machen, denn er macht diese Wahrheit sichtbar. Wenn Andrej und Domenico - oder auch Andrej Rubljow - schweigen, sieht man, daß sie, während sie schweigen, nur um so tiefer erinnern, um so existentieller suchen. Erst dadurch wird ihr Schweigen überhaupt ein sprechendes und dialogisches (während etwa in vielen amerikanischen Western-Filmen das Schweigen eine bloß äußerliche Pose und deshalb häufig der Ausdruck einer Leere, das heißt eigentlich einer Stummheit ist).

Während die Stille als "Pause" eine materiale Bedingung jeder Zeitkunst ist, da der Ton oder Klang in sich transitorisch ist, das heißt, sich schon im Erklingen selbst wieder vernichtet, und es insofern eine im strengen Sinne "pausenlose Musik" oder einen "pausenlosen Film" gar nicht geben kann - denn ein in diesem Sinne pausenloser Film wäre die Zurückführung des motion picture auf das still picture, also auf die Fotografie, aus deren Dynamisierung der Film allererst seine durée interieure gewonnen hat -, kann hingegen die innere Zeit der Stille als eine seelische Qualität wiederum nur das Resultat einer besonderen poietischen Zeit-Erfahrung und künstlerischen Meisterschaft sein.

Wenn etwa in der mit fast neun Minuten mit Abstand längsten Plansequenz (das heißt einer in Echtzeit und ohne Unterbrechung gedrehten Einstellung) des Films Nostalghia nichts anderes zu sehen ist als ein Mann, der dreimal eine vom Verlöschen bedrohte brennende Kerze von der einen zur anderen Seite eines entleerten Schwimmbeckens zu tragen versucht, wenn dieses Ereignis auch noch, vom Geräusch einiger, immer weniger werdender niederfallender Wassertropfen abgesehen, in Totenstille erfolgt, so wird die Bedeutung dieser inneren Zeit unmittelbar erfahrbar, fühlt sich der Betrachter, wie Hegel von der Musik sagt, "als selbst in der Zeit seiend", wird mithin jene existentielle Zeitlichkeit, die Andrej in dieser Einstellung durchschreitet und vollendet, sehr unmittelbar erfahrbar.

Dies gilt für die Heimat-Chronotope des Films nicht minder, aber etwa auch für jene Einstellung im Stalker, in der die drei Männer den ersten Schritt in das Innere der "Zone" setzen: Absolute Stille und die denkbar schlichte Farbeinstellung eines menschenleeren Waldstücks bewirken hier den erstaunlichen Eindruck, als sähe man die Erde in den Anfängen und zum ersten Mal. Auch hier ist dies wiederum ein Resultat der besonderen filmischen Zeitkunst des Regisseurs: Die lange, mit einem monoton-pochenden Maschinengeräusch unterlegte monochrome Einstellung einer schier endlos scheinenden Lorenfahrt der drei Männer bereitet diesen befreienden "Schritt ins Offene" gründlich vor. Der dann folgende Gegenschnitt ist hier tatsächlich eine jähe Peripetie, wie es, auf andere Weise, auch in der Schlußsequenz von Andrej Rubljow der Fall ist, wo man nach langer Anwesenheit in den Höhen und Tiefen der monochrom gefilmten Welt des Mittelalters nun auf einmal glaubt, zum ersten Mal das Wesen der Farbe und der Kunst wahrzunehmen, wenn die Kamera in einer mehrere Minuten dauernden Einstellung die Farbpracht der berühmten Dreifaltigkeitsikone des Malers abtastet, der Regisseur eine künstlerische Emanation förmlich ein zweites Mal zur Entfaltung bringt.

Farbdramaturgie, Kamera und Innere Montagen

Letzteres steht nur scheinbar im Gegensatz dazu, daß der Regisseur im allgemeinen betont, daß "die Farbe im Film vor allem eine kommerzielle Forderung, keine ästhetische Kategorie" ist. Tarkowskij ist im Grundsatz zwar der Auffassung, daß man die Farbe als künstlerisches Element sozusagen den Malern überlassen solle, da im technischen Medium des Films dem Regisseur in dieser Hinsicht ohnehin sehr enge Grenzen auferlegt seien - und nichts anderes drückt ja auch die Schlußeinstellung von Andrej Rubljow aus. Andererseits können und wollen Tarkowskijs Filme offenbar nicht völlig der Farbe entsagen, ja sie bedienen sich der Farbe vielfach wiederum mit einer solch innovativen Präzision und Wirkkraft, die Kritiker, mit einigem Recht, Lobgesänge auf diese "Farb-Arrangements" anstimmen läßt. Bedenkt man, daß das Licht die Farben und ihre "Färbung" in dem Sinne, wie man auch von "Klangfarben" spricht, allererst schafft, die Kinematographie aber nicht nur Zeit-Kunst, sondern zugleich auch "Licht-Kunst" ist, so kann es nicht wirklich verwundern, daß bei Tarkowskij tatsächlich auch Licht und Farbe zu wesentlichen Intonationselementen werden.

Betrachtet man die Licht- und Farbfugen in Nostalghia, etwa in den bereits erörterten Einstellungen in Domenicos verfallenem Haus mit dem "Regen-Raum" oder auch in den Einstellungen, die Andrej in seinem Hotelzimmer zeigen, wo es nach Angaben des Regisseurs in einzelnen Einstellungen allein "bis zu achtzehn Lichtveränderungen" gibt, so kann gar kein Zweifel bestehen, daß auch diese Intonationselemente hier nicht anders als mit höchster Sorgfalt und Meisterschaft "verfugt" werden. Gleichwohl widerspricht dies Tarkowskijs Grundsatz keineswegs, denn entscheidend ist in diesem Zusammenhang, daß er auch in den späten Farbfilmen in der Tat immer wieder zu meist längeren monochromen Einstellungen und Sequenzen, die zudem - man denke etwa an den Heimat-Chronotop zu Beginn und am Ende von Nostalghia - oft Schlüsseleinstellungen sind, zurückkommt. "

So seltsam dies anmutet: Obwohl die uns umgebende Welt farbig ist, gibt der Schwarzweißfilm ihr Bild näher zur poetischen Wahrheit hin wieder", so hebt der Regisseur ein merkwürdiges Phänomen hervor. Evident scheint zunächst soviel, daß das Sonnenlicht unsere aisthesis Farben wahrnehmen läßt, in der Dämmerung schon "alle Katzen grau" sind, während wir in der Dunkelheit gar keine Farben, nur Hell und Dunkel, sozusagen nur "Schatten" sehen. Doch wie sieht eigentlich das "innere Auge" des Erinnerns seine Gestalten? Sind diese Seelengestalten, die im Mittelpunkt von Tarkowskijs Kosmos stehen, farbig? - Sie sind zumindest von ganz anderer Natur und Physiognomie als die Gestalten unserer gewöhnlichen Sinneswahrnehmungen. Man kann in der inneren Zeit des Erinnerns - und nichts anderes meint der Regisseur letztlich, wenn er von der größeren Nähe der Schwarzweiß-Bilder zur "poetischen Wahrheit" spricht - zwar sehen und hören, doch sieht man nicht mit dem Sinnesorgan Auge und hört nicht mit dem Sinnesorgan Ohr. Man kann in dieser inneren Welt des Erinnerns, wie Augustinus dargelegt hat und wie man es selbst leicht überprüfen kann, riechen und schmecken, ja sogar "bei ruhender Zunge und schweigender Kehle" singen, ohne daß auch nur ein Ton zu unserem Ohr dringt. Welch geheimnisvolle innere Monaden und Welten - so geheimnisvoll wie die Filme Tarkowskijs. Von dieser inneren Welt der Ursprungserinnerungen sagt Platon im Phaidros (247c), daß sie "nicht-figürlich" (aschematistos) und "nicht-farbig" (achromatos) seien. Er sagt freilich nicht, daß sie "Schwarzweiß" seien, sondern will gerade ihren unbeschreiblichen Charakter überhaupt hervorheben.

Unbestreitbar ist jedenfalls, daß Tarkowskijs filmpoetische Suche nach der inneren Zeit filmsprachlich ganz entscheidend von monochromen Einstellungen, aber vor allem auch dem Wechsel von farbigen und monochromen Einstellungen geprägt ist. Dieser Wechsel folgt hier freilich nicht einer inzwischen gewohnten Dramaturgie des Kinos, "subjektive" und "objektive" Handlungsebenen mittels solcher Wechsel zu markieren, sondern vielmehr ganz eigenen Gesetzen. Allgemein kann man sagen, daß der Wechsel von Farbe und Monochromie zum einen selbst ein eigenständiges Intonationselement und rhythmus-bildendendes Moment darstellt - wie es etwa am Beispiel des erstmaligen Betretens der Zone im Stalker deutlich wird -, zum anderen aber überhaupt nicht dem Diktat einer äußeren "Chrono-logie", sondern wiederum der immanenten Logik der inneren Zeit folgt.

Auf dieser Basis ergibt sich ein erweitertes und vielfältiges Spektrum an Möglichkeiten, diesen Wechsel für die Poesie des Films fruchtbar zu machen. Keinesfalls darf man aber im Sinne der herkömmlichen Sujetlogik davon ausgehen, daß die monochromen Einstellungen immer nur "das Subjektive" (Träume, Visionen, Erinnerungen), die Farbeinstellungen aber die "wirkliche Jetztzeit" und "objektive Realität" betreffen. Daß diese Ontologie nicht diejenige der Kunst Tarkowskijs ist - die das Erinnern gerade nicht als bloße Größe unseres subjektiven Bewußtseins, sondern als eigentliches und umfassenderes Sein erfährt und freistellt -, wurde schon mehrfach hervorgehoben und läßt sich gerade an der Spezifik, wie Tarkowskij diesen Wechsel von Farbe und Monochromie intoniert, besonders unmittelbar erfahren.

Wenn in Nostalghia etwa die monochrome Heimat-Einstellung gerade nicht als bloße "subjektive Erinnerung", sondern vielmehr als Inbild von Herkunft und Heimat in einem ontischen Sinn erscheint - der Film beginnt und endet mit diesem "Grundthema" und kehrt in seinem Verlauf immer wieder zu ihm zurück -, wird die besondere, je schon mnemontische Logik dieser poetischen Dramaturgie ebenso deutlich wie in jener Einstellung, die Domenicos traumatische Erinnerung an die "Befreiung" seiner Familie durch die Polizei zeigt. Es ist zunächst einmal die einzige Farbeinstellung des Films, in der eine Zeitlupe auftaucht, so daß sie allein insofern als besonders herausgehobene Schlüsseleinstellung zu verstehen ist. Diese kurze, in der gesamten Sequenz als einzige durch Farbe akzentuierte Einstellung zeigt Domenico mit seinem Schäferhund in der aktuellen Zeit und ist seinen monochromen, ebenfalls in Zeitlupe gedrehten Erinnerungsbildern an das Familiendrama zwischengeschnitten.

Wie ist das zu verstehen? Man könnte sagen: Domenico wird hier förmlich von diesem Trauma, das heißt aber auch von der inneren Zeitform seiner Erinnerungen "eingeholt". Man könnte aber ebenso gut sagen: Die Einstellung unterstreicht einmal mehr Tarkowskijs Auffassung von der Gegenwärtigkeit des Gewesenen, von der Realität der inneren Zeit, ja in gewisser Hinsicht allererst Wirklichkeit konstituierenden Kraft des Erinnerns. Es kann hier insofern nicht von einer "subjektiven", sondern allenfalls von einer subjektivobjektiven oder besser einer selbst mnemontischen Kameraperspektive die Rede sein, die ein Ereignis, das in Wahrheit gar nicht in eine "subjektive" oder "objektive" Seite getrennt werden kann, sondern fr das gerade diese Einheit selbst wesentlich ist, auch in und als diese Einheit augenfällig macht. Mit anderen Worten: Tarkowskij schafft hier ein filmisches Inbild der Gegenwärtigkeit des Subjektobjekts "Erinnern" selbst, ein Symbol der Wahrheit des Seins des Erinnerns, das, wie Bunuel einmal sagt, "unser Zusammenhalt, unser Grund, unser Handeln, unser Gefühl (ist). Ohne Gedächtnis sind wir nichts."

Eine zentrale Rolle unter den Intonationselementen nimmt in der Kinematographie natürlich die Kameraführung ein. Allgemein kann man feststellen, daß in Tarkowskijs Filmen die Kamera sehr stille und langsame, aber gleichwohl signifikante eigenständige Bewegungsformen intoniert. Sie praktiziert gewissermaßen den Satz des Stalker, daß "in der Zone die kürzesten Wege nicht zum Ziel führen", so daß insgesamt ausgeprägt langsame Panoramafahrten und, zumeist ebenfalls langsame, vertikale und horizontale Fahrten das Bild bestimmen. Der sich mit Variationen wiederholende, sehr ruhige und fast den Eindruck des Schwebens hervorrufende Panoramaschwenk um den Heimat-Chronotop etwa trägt maßgeblich zu der Erfahrung bei, daß dieser Zeit-Raum "zeitlos" und ewig zu bestehen scheint.

Eine andere typische Kamerafigur in Nostalghia - wie sie in der bereits erörterten Sequenz in Domenicos Zimmer oder auch in den Einstellungen, die Andrej, Eugenia und Domenico am Schwimmbecken von Bagno Vignoni zeigen, deutlich wird - läßt sich mit dem geordneten Wechsel von vertikaler und horizontaler Kamerabewegung beziehungsweise Raumerfahrung umschreiben. Bei vielen Gelegenheiten, wie etwa in der Sequenz in Domenicos Haus, vollzieht die Kamera im Wechselspiel mit den Darstellern eigenständige Bewegungsmuster. Dies unterstreicht, daß die Kamera hier keine bloße "Abbildungsmaschine" ist, sondern selbst in bestimmter Hinsicht zu einem unmittelbaren Rhythmusinstrument, in ihren Eigenrhythmen zu einem integralen Bestandteil der polyphonen Intonation wird.

Ein anderes Moment, das in Tarkowskijs Filmen wiederholt begegnet und zur Spezifik seiner Weltbilder gehört, könnte man als "Raumerweiterung" umschreiben. Diese Raumerweiterung, die hier stets auch eine Zeit-Raum-Erweiterung ist, kann hörbarer Art sein, wie etwa in der ersten Farbeinstellung in Nostalghia, wo ein Wagen ins Bild kommt, es wieder verläßt, aber noch hörbar ist und schließlich wieder von der anderen Seite erneut ins Bild gerät. Eine derartige akustische "Leinwand-Erweiterung" ist in gewisser Hinsicht aber die Geräuschkulisse bei Tarkowskij überhaupt: Ein fernes Hundegeheul oder das sich in der Ferne verlierende Gemurmel und Jammern von Klageweibern oder auch das leise Summen eines Wiegenlieds drängt hier stets über die Grenzen der Leinwand hinaus.

Diese Zeit-Raum-Erweiterung kann aber auch sichtbarer Art sein und sich in den für Tarkowskij so kennzeichnenden "gleitenden Übergängen" von einem Mikrokosmos in einen Makrokosmos oder auch umgekehrt äußern. In Solaris erscheint das elterliche Haus in der Schlußeinstellung als eine Insel in dem makrokosmischen Solaris-Ozean, wie in Opfer umgekehrt das Landhaus Alexanders in einer monochromen Einstellung überraschend als Mikrokosmos wiederkehrt. Wenn in Nostalghia Andrej Domenicos Haus betritt, sieht man zunächst eine verwitterte, morastige Landschaft (die sich als ein Detail des "renaturalisierten" Hauses Domenicos erweist), ehe eine Maueröffnung den Blick auf eine weite Gebirgsschaft und den Horizont freigibt. Diese Blicke in Räume, die ihrerseits sogleich Blicke in neue, erweiterte Zeit-Räume eröffnen, begegnen in Tarkowskijs Filmen häufig. Sie drängen über die Leinwandbegrenzung hinaus, richten den Blick auf die Einheit von Innen und Außen, von Mikro- und Makrokosmos.

Von entscheidender Bedeutung ist bei Tarkowskij die hohe Kunst der Inneren Montage, sofern man diesen Begriff nicht als eine bloße Technik und allzu eng im Sinne der Tiefenschärfe Bazins, sondern im Geiste jener "poetischen Verknüpfung" innerhalb der Einstellungen versteht. Während man die unvergeßliche Schlußeinstellung von Nostalghia, in der sich verschiedene Ebenen und Zeiten zu einem Ewigkeitsaugenblick verdichten, noch ohne weiteres als eine Innere Montage im Sinne Bazins bezeichnen kann, die im wesentlichen - wenn auch nicht ausschließlich - auf den spezifisch kinematographischen Mitteln beruht, im tiefenscharfen Bildraum durch Überblendung verschiedene Bildebenen in ein Gesamtbild "zu montieren", so zeigt sich etwa in der zu Beginn näher erörterten Sequenz in Domenicos Zimmer, daß dieser enge Begriff hier nicht mehr greift. Die verschiedenen inneren Zeiten und Bewegungen der Intonationselemente für sich, aber noch mehr in ihrem synergetischen Zusammenspiel, werden hier zu einer einzigen Befragung des Wesens der Zeitlichkeit überhaupt. Wenn an einer Stelle die Kamera eine Wand entlangfährt, Andrej dabei aus dem Bild gerät und, während die Kamera ihre Fahrt fortsetzt, plötzlich links wieder ins Bild gerät, so fragt man im Kontext dieses Films und der Poetik Tarkowskijs als Betrachter nicht etwa danach, ob der Regisseur damit nur unserem Vertrauen in die aisthesis einen Streich spielen will (worin wohl Bunuel der unbestrittene Meister ist), sondern man erfährt es als durchaus "in der Ordnung" dieser Kunst der inneren Zeit und dieser Poetik des Mnemontischen.

Eines der wirkungsvollsten Beispiele für diese Kunst der Poetik des Innerzeitlichen ist in Nostalghia die vorletzte Heimat-Einstellung: Während die Kamera jene langsame, schwebende Panoramafahrt vollzieht, erscheinen im Bild nach und nach zunächst die Mutter, dann Maria, dann die Kinder und der Schäferhund, und zwar, durch unbemerkte innere Montagen herbeigeführt, in mehrfach wechselnden Anordnungen vor dem Hintergrund der stillen Heimatlandschaft, ehe sie sich alle nach und nach umwenden und ihre Blicke die aus dem Morgendunst aufsteigende Sonne verfolgen. Die Kunst der Inneren Montage ist gewiß bei vielen Filmkünstlern auf überraschende und virtuose Weise angewendet worden, aber doch kaum in einer derart einfachen und zugleich dichten, von allen "bedienenden" Funktionen befreiten und geradezu organisch anmutenden Form, in der die verschiedenen Momente, Kamera, mise en scéne, Landschaft und innere Zeit der Elementarkräfte des Heimat-Chronotops, zu einer einzigen Einheit, zu einer Landschaft des Unvergeßlichen verschmelzen. Man kann sagen, daß Tarkowskijs Filme, insbesondere seine Spätwerke, in einem ausgezeichneten Sinn aus dem Geist der Musik heraus entwickelt werden. Sämtliche Elemente, selbst die kleinsten und unscheinbarsten Einheiten des Films, sind hier in einem außerordentlichen Sinne zeithaltig und werden als Momente, in denen Zeit "versiegelt" ist, zur synergetischen Polyphonie des jeweiligen Grundthemas entfaltet.

(...)



© HD Jünger & edition tertium, Ostfildern

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